Entwicklungstheorie

Der Hype um die Mittelklassen

Die Mittelklassen gelten als neue Hoffnungsträger in der entwicklungspolitischen Diskussion. Ob sie tatsächlich Fortschritt vorantreiben, darf bezweifelt werden. Wer der Mittelschicht oder Mittelklasse angehört, ist außerdem schwer zu definieren.
Einkaufszentrum in Mumbai: Wollen „neue “ Mittelklassen wirklich Armut bekämpft sehen? Böthling/Photography Einkaufszentrum in Mumbai: Wollen „neue “ Mittelklassen wirklich Armut bekämpft sehen?

Der schwedische Soziologe Göran Therborn wirft die Frage auf, ob uns ein Jahrhundert der Mittelklasse bevorsteht. Seiner Beobachtung nach spielt die Arbeiterbewegung des vergangenen Jahrhunderts keine Rolle mehr. Das Projekt einer weltweiten Emanzipation der Bürger unter Führung des Proletariats wurde durch das Streben ersetzt, den Status der Mittelklasse zu erlangen. Ein Indikator für diese Einschätzung war für Therborn der OECD-Bericht zu den globalen Entwicklungsperspektiven 2012, der die Notwendigkeit betonte, die im Wachstum begriffenen Mittelklassen zu stärken.

Aber auch das Plädoyer von Nancy Birdsall, die das Centre for Global Development als einflussreichen US-amerikanischen Thinktank leitet, gilt ihm als gewichtiges Indiz. Sie drängt darauf, dass die Politik ihre Prioritäten von einem „pro-poor“-Wachstum zu einem „Mittelklassen-Wachstum“ verlagern soll.

Diese Auffassung untermauert auch der Bericht zur menschlichen Entwicklung 2013 des United Nations Development Programme (UNDP) sowie die alle drei Jahre stattfindende Konferenz der Euro­pean Association for Development Research and Training Institutes (EADI). Die Tagung beschäftigte sich Mitte 2013 in Bonn mit dem Thema „Responsible Development in a Polycentric World. Inequality, Citizenship and the Middle Classes“.

EADI-Vizepräsident Jürgen Wiemann ist der Meinung, dass eine gerechtere und tragfähige Entwicklung weltweit nur mit Hilfe der neuen Mittelklassen in den Schwellenländern erzielt werden könne (siehe E+Z/D+C 2014/04, S. 164 f.). Das „Einschwenken der Weltwirtschaft auf einen nachhaltigen Entwicklungspfad“ hänge entscheidend von den „neuen“ Mittelklassen ab. „Sie müssen so schnell wie möglich ihre materiellen Konsumansprüche überprüfen und anpassen, um Umweltschäden und soziale Katastrophen zu verhindern“, schreibt er. Die „alten“ Mittelklassen in den OECD-Ländern müssten eine Vorreiterrolle spielen und Vorbilder für zukunftsfähige Produktionssysteme, Konsummuster und Lebensstile abgeben.


Gewinner sind die Reichen

Gegen diese Mittelschichten-Theorie spricht das vielbeachtete Werk „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ des Ökonomen Thomas Piketty. Er macht deutlich, dass die eigentlichen anhaltenden materiellen Ungleichheiten in unseren Gesellschaften seit über zwei Jahrhunderten durch eine Reproduktion von finanziellem Reichtum aufrechterhalten und verstärkt werden. Diese Realität macht die Theorie der Chancengleichheit im vorgeblich freien Kapitalismus einer Marktwirtschaft einmal mehr zur ideologischen Farce. Wie Piketty anhand von Statistiken empirisch nachweist, hatte das Kapital und dessen Eigner durchweg die Tendenz, immer größere Ungleichheiten zu produzieren. Das ist eigentlich nichts Neues. Piketty erklärt dies dadurch, dass die Rendite auf Kapital stets den Zuwachs an Einkommen (durch Arbeit) übersteigt. Das eine Prozent der wirklich Reichen wird im Laufe der Zeit noch deutlich reicher als der Rest. Daraus lässt sich der Schluss ziehen, dass eine Wahrnehmung der Mittelklassen als die eigentlich Gewinnenden unserer Zeit ganz offensichtlich einer Täuschung aufsitzt. Die Gewinner bleiben weiterhin zuerst diejenigen, die mit ihren Gewinnen weitere lukrative Geschäfte machen.

Ein Prozent der Weltbevölkerung verfügt laut einem von Oxfam zu Jahres­beginn 2014 veröffentlichten Bericht über 46 Prozent des gesamten messbaren Reichtums. Das ist ein 65-faches dessen, über das die gesamte untere Hälfte der Bevölkerung dieser Erde verfügt. Wie die ­internationale Organisation kürzlich mitteilte, wird der Anteil des reichsten Prozents 2016 sogar auf auf mehr als 50 Prozent des Weltvermögens steigen, wenn bisherige Trends anhalten. Angesichts solch eklatanter Disparitäten ist es schleierhaft, wie es zur Zukunftssicherung durch die Mittelklassen kommen soll.

Der Begriff „Mittelklasse“ wird kaum noch kritisch hinterfragt. Er hat sich im Zuge der Erosion einer Arbeiterklasse und der immer undeutlicheren Übergänge von der einen sozialen Schicht zur anderen her­auskristallisiert. Umstritten ist auch, wer überhaupt zur Mittelklasse zählt. Raphael Kaplinsky von der britischen Open University kritisiert, dass einige Institutionen wie die African Development Bank schon Menschen zur Mittelklasse rechnen, die tägliche Einnahmen ab zwei US-Dollar haben und so beinah alle, die nicht verhungerten, zu einer Mittelklasse gerechnet werden könnten.

Der Weltbank-Chefökonom Martin Ravallion hatte schon 2009 für eine Einordnung als Mittelklasse-Haushalte in Entwicklungsländern vorgeschlagen, diejenigen dazuzuzählen, deren Pro-Kopf-Konsumption sich auf zwei bis 13 US-Dollar täglich beläuft. Der UNDP-Bericht zur Lage der menschlichen Entwicklung 2013 greift dagegen auf eine Definition der Brookings Institution zurück, der zufolge tägliche Einnahmen zwischen zehn und 100 US-Dollar eine Mittelklasse definieren. Es scheint sich ein Konsens abzuzeichnen, dass erst ab einem täglichen Einkommen von zehn Dollar die Armutszone verlassen und sozialökonomisch halbwegs sicheres Terrain erreicht wird.

Höchst unterschiedliche Einkommen sowie entsprechend unterschiedliche Lebensstile sind zudem noch kein verlässliches Kriterium dafür, wie sich eine solch vage verstandene Mittelklasse eigentlich gesellschaftlich positioniert. Viele Wissenschaftler sind sich einig, dass Eigennutz eine durchaus relevante Eigenschaft ist, die das Handeln solcher Schichten motiviert. Oftmals herrscht die „NIMBY“-Einstellung vor. NIMBY steht für „Not In My Back Yard“ und suggeriert, dass spezifische Gruppeninteressen nach Meinung derjenigen, die zu dieser Gruppe gehören, unangetastet bleiben sollen – auch wenn es Reformideen gibt, die eigentlich unterstützenswert sind. Dies geschieht oft nur so lange, wie diese nicht die eigenen Belange negativ tangieren und Vorrechte einschränken.

Derartige Mittelklassenzugehörige erweisen sich eher als Gralshüter ihrer relativen Privilegien gegenüber den niedrigeren Schichten denn als Verfechter von Alternativen, die möglicherweise ihre Privilegien einschränken. Sie eignen sich deshalb oft wenig als fortschrittliches Vehikel für Sozialreformen im Interesse der Mehrheit.

Der chinesischen Mittelklasse geht es zum Beispiel mehr um den Erhalt ihrer Privilegien und eine Loyalität zum Staat, dem sie ihren sozialen Aufstieg verdankt, als um mehr soziale Gerechtigkeit und Gleichheit. Sie erfüllt damit eine staatstragende Funktion zum Erhalt des Status quo. Die Mittelklassen in Südamerika erwiesen sich historisch eher auf der Seite reaktionärer Regime und Umstürze und zeigten sich recht selten auf den Barrikaden im Kampf um soziale Reformen.


Wenig Solidarität

Die am wenigsten ins Gewicht fallenden Mittelklassen in den Ländern Afrikas haben sich unlängst auch nicht gerade als sonderlich demokratisch geoutet. Bei einer Befragung durch die Afrobarometer-Demokratieforschungen äußerten sie sich ebenfalls eher elitär. Sie halten die „Ungebildeteren“ für nicht kompetent, sich an Wahlen zu beteiligen, und neigen zu der Meinung, dass nicht alle Menschen ein Stimmrecht haben sollten, da viele nicht verstehen würden, um welche Sachfragen es bei Wahlen eigentlich gehe.

Auch zu Diskussionen um einen notwendigen neuen Gesellschaftsvertrag, der die Fundamente für eine tragfähige Entwicklung legen soll, haben die Mittelklassen nicht viel beizutragen. So wenig sie innerhalb der eigenen Gesellschaft solidarisches Verhalten praktizieren, so wenig ist davon auch im internationalen Kontext zu spüren.

Letztlich scheint es bei dem Hype um die Mittelklassen darum zu gehen, Zukunftsperspektiven vorzugaukeln. Diese können die Akteure dieser Gesellschaftsschicht angesichts der realen Machtverhältnisse eigentlich gar nicht verwirklichen. Mittelklassen sollen jetzt richten, was außerhalb ihrer unmittelbaren Einflusssphäre und Verfügungsmacht steht. Die Mittelklasse-Diskussion soll wohl letztlich davon ablenken, die eigentlichen Her­ausforderungen in Angriff zu nehmen.

Henning Melber ist Direktor emeritus der Dag Hammarskjöld Stiftung in Uppsala und Extraordinary Professor der südafrikanischen Universitäten in Pretoria und Bloemfontein.
henning.melber@dhf.uu.se

Literatur:
Birdsall, N., 2010
: The (Indispensable) Middle Class in Developing Countries. Washington: Centre for Global Development (Working Paper 207).
Bratton, M., 2013: Voting and Democratic Citizenship in Africa: Where Next? In: Bratton, M., (ed.): Voting and Democratic Citizenship in Africa. Boulder, Colorado und London.
Kaufmann, D., Kharas, H., Penciakova, V., 2012 : Development, Aid and Governance Measures: Middle Class Measures. Washington, DC.
http://www.brookings.edu/research/interactives/development-aid-governance-indicators
Kharas, H., 2010: The Emerging Middle Class in Developing Countries. Paris: OECD Development Centre (Working Paper; 285).
OECD, 2011: Perspectives of Global Development. Paris.
Piketty, T., 2014: Capital in the Twenty-First Century. Cambridge.
Ravallion, M., 2009: The Developing World’s Bulging (but Vulnerable) „Middle Class“. Washington, DC: The World Bank/Development Research Group (Policy Research Working Paper; 4816).
Therborn, G., 2012: Class in the 21st Century. In: New Left Review, Nr. 78.

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