Nachhaltigkeit

Eine europäische Marke

Die EU hat bei der Verabschiedung der Sustainable Development Goals (SDGs) und bei den Verhandlungen zum Pariser Klimaschutzabkommen eine wichtige Rolle gespielt. Aber ihre eigene Politik besteht den Nachhaltigkeitstest nicht. Die EU muss zu der Solidarität zurückkehren, die einst ihr zentrales Konzept war.
In der Forstwirtschaft bedeutet Nachhaltigkeit, dass nicht mehr Bäume gefällt werden als nachwachsen können. Teister/picture-alliance/blickwinkel In der Forstwirtschaft bedeutet Nachhaltigkeit, dass nicht mehr Bäume gefällt werden als nachwachsen können.

Der Begriff der Nachhaltigkeit geht auf die deutsche Forstwirtschaft im 18. Jahrhundert zurück. Er bedeutet: Fälle nicht mehr Holz in einem bestimmten Zeitraum, als in demselben Zeitraum nachwachsen kann.

Heute wird der Begriff in einem weiteren Sinne verwendet. Es geht darum, dass zukünftige Generationen dieselben Möglichkeiten haben sollen wie die jetzt lebenden Menschen. Wichtige Aspekte sind dabei der Kampf gegen Armut und Hunger, gute Arbeit für alle, eine gute Gesundheitsversorgung, qualitativ hochwertige Bildung und die Gleichberechtigung der Geschlechter. Natürlich müssen zugleich die Umwelt und das Klima geschützt werden. Außerdem müssen starke Institutionen für Frieden und Gerechtigkeit sorgen.

Von Anfang an basierte die EU auf den Prinzipien von Frieden und Rechtsstaatlichkeit, die von starken Institutionen gestützt werden. Die gemeinsame Wirtschaftsordnung basierte auf der Idee der sozialen Marktwirtschaft. Das Konzept war erfolgreich. Schwach entwickelte Länder, die der EU beitraten, erreichten größeren Wohlstand. Doch leider hat sich Konkurrenzdenken an die Stelle des Solidargedankens gesetzt, weshalb 120 Millionen Europäer in die Armut abrutschen könnten und viele Bürger die EU in Frage stellen.

Ein schon länger bestehendes Problem ist, dass der wirtschaftliche Erfolg Europas oftmals auf Kosten der Umwelt geht. Der Kontinent ist dicht bevölkert und hat wenig natürliche Ressourcen. Er hat mehr als seinen gerechten Anteil der weltweiten Rohstoffe verbraucht, und erst heute begreift man, dass es angesichts des globalen Bevölkerungswachstums so nicht weitergehen kann.

Deshalb muss die EU die Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft neu entdecken. Dazu zählt neben Solidarität auch Verantwortung für die Folgen des wirtschaftlichen Handelns. Die EU muss die SDGs als übergeordnete politische Ziele anerkennen.

Alle Politikvorschläge müssen anhand der drei Aspekte von Nachhaltigkeit überprüft werden: wirtschaftlich, sozial und ökologisch – und zwar mit dem gleichen Stellenwert. Mehr Partizipation und Transparenz bei politischen Entscheidungen sind nötig, und die Auswirkungen der Politik müssen besser überwacht und der Öffentlichkeit kommuniziert werden.


Richtungswechsel vonnöten

Die Zukunft sieht düster aus: Wenn im Jahr 2050 10 Milliarden Menschen nach den zurzeit in der EU herrschenden Konsum- und Produktionsmustern leben, braucht die Menschheit zweieinhalb Mal so viele Rohstoffe, wie es auf der Erde gibt. Es ist gut, dass die EU den Wandel zu einer Kreislaufwirtschaft eingeleitet hat. Wir müssen Müll recyceln. Wir müssen die Lebensdauer von Produkten durch Reparaturen, Wiederverwertung und Wiederaufbereitung erhöhen. Wir müssen bei der Produktion von Gütern und Dienstleistungen Ressourcen einsparen, und wir müssen stärker auf erneuerbare Energien setzen.

Europa entwickelt sich derzeit zu einer dienstleistungsorientierten Wirtschaft. Teure Güter werden lieber geleast als gekauft. Dieser Trend ist gesund, weil er die Zahl der Güter verringert, während Millionen neue Jobs entstehen.

Wir wissen, dass die Wiederverwertung von Altmetall deutlich effizienter ist als Bergbau. Wir verfügen über Technologien, qualitativ hochwertige Altstoffe zu recyceln. Was übrig bleibt, sollte zumindest für die Energiegewinnung in Müllverbrennungsanlagen verwendet werden. Solche Anlagen können mit Heizsystemen verbunden werden und zur Deckung des Energiebedarfs sowie zur Verbesserung der Luftqualität beitragen. Die Umwandlung zu einem nachhaltigen Wirtschaften erfordert rechtliche Rahmenvorschriften, die den Wandel unterstützen und Investoren Planungssicherheit geben.


Keine abgestimmte Politik

Die EU ist der einzige größere Partner, der seine im Kyoto-Protokoll gemachten Zusagen für die Reduzierung des Treibhausgasausstoßes erfüllt  hat. Dennoch stößt die EU noch immer mehr klimaschädliche Treibhausgase aus als sie, gemessen am Anteil an der Weltbevölkerung, dürfte: Weniger als sieben Prozent der Weltbevölkerung leben in der EU, aber der Anteil der Treibhausgasemissionen liegt bei zehn Prozent des weltweiten Ausstoßes.

Die EU war bei der Entwicklung von Technologien für erneuerbare Energien zunächst vorne, wurde aber inzwischen von China überholt. Weil eine abgestimmte Politik fehlte, hat die EU ihren Startvorteil vergeben. Der Vorschlag einer Energie-Union setzt richtigerweise darauf, dem Energiesparen höchste Priorität einzuräumen. Energieeffiziente Produkte energiesparend zu produzieren, kann für die EU ein neuer Wettbewerbsvorteil sein. Das schafft Arbeitsplätze, erfordert aber Innovation.

Auch die Finanzmärkte sind nicht auf einem nachhaltigen Weg. In den 80er Jahren waren die globalen Finanzanlagen und die Bruttoinlandsprodukte noch in etwa ausgeglichen. Doch seither haben die Finanzanlagen die Realvermögen um ein Vierfaches überholt aufgrund wachsender öffentlicher Verschuldung und Spekulation in ungedeckte Zukunftswerte.

Um sich besser gegen externe Schocks zu schützen, muss die EU ihre Bankenunion vervollständigen. Eine vernünftige Bankenaufsicht wird immer wichtiger – besonders mit Blick auf eine mögliche Kehrtwende der USA bei der Finanzregulierung, durch die eine neue Krise wahrscheinlicher wird. Den Finanzsektor nachhaltiger zu gestalten bedeutet, die spekulativsten Handelsformen zu unterbinden.

Darüber hinaus bedarf es irgendeiner Form der Finanztransaktionsteuer, damit der kurzfristige spekulative Überweisungsverkehr gebremst wird. So eine Steuer käme auch den Staatshaushalten zugute. Es ist absurd, dass in unserem System noch immer die Arbeit am stärksten besteuert wird.

Ein weiteres Problem sind Steuerschlupflöcher. Das Europäische Parlament schätzt die durch Steuervermeidung entstehenden Einbußen auf 50 bis 70 Milliarden Euro pro Jahr. Das Geld wird dringend für die Infrastruktur und die Gesundheitssysteme sowie für Bildung und soziale Sicherung benötigt.

Die Europäer generieren derzeit individuellen Wohlstand, steigern die Ungleichheit und schwächen die öffentlichen Haushalte auf nichtnachhaltige Weise. Wir sollten uns nicht auf Philanthropen verlassen. Es ist besorgniserregend, dass Milliardäre wie Bill Gates mehr Geld für Belange des öffentlichen Interesses ausgeben als gewählte Regierungen.


Problematische Lebensmittelindustrie

Auch die Lebensmittelindustrie hat beunruhigende Formen angenommen. Bauern stehen unter dem ständigen Druck, mehr und billiger zu produzieren. Die zunehmende und teure Nutzung von Pestiziden, Düngemitteln und immer ausgefeilterer Technologie hat die Einkommen der Landwirte so sehr schrumpfen lassen, dass viele aufgeben. Die Höfe, die überleben, haben sich meist auf große Monokulturen spezialisiert – mit gravierenden Folgen für die Umwelt.

Auch die Konsumenten leiden: Lebensmittel sind durch Pestizide oder Antibiotika belastet. Fettleibigkeit, Herzkreislauferkrankungen und Diabetes nehmen zu, auch aufgrund unserer Ernährungsweise. Wir subventionieren Bauern mit öffentlichen Geldern, und wir begünstigen große industrieartige Betriebe zulasten der Umwelt und der ländlichen Beschäftigung.

Die gute Nachricht ist, dass alternative Ansätze an Beachtung gewinnen. Weniger Pestizide und Düngemittel bedeuten nicht automatisch weniger Ertrag. Wenn es der Natur gut geht, produziert sie fruchtbare Böden und sauberes Wasser und hilft bei der Bestäubung. Bauern, die sich dem Teufelskreis aus Preiskampf und Verteuerung der Produktionskosten entzogen haben, erzielen höhere Einkommen. Auch die Konsumenten ändern ihr Verhalten, wenden sich Bioprodukten zu und reduzieren ihren Fleisch- und Zuckerkonsum.

Die Liste nichtnachhaltiger europäischer Politik ist noch viel länger. Die Luftverschmutzung in Städten ist eine große Herausforderung, ebenso wie die durch Pendler verursachten Emissionen. Die Gewässer sind überfischt und verschmutzt.

Doch es gibt Hoffnung. Immer mehr Europäer sind sich der Probleme bewusst. Die europäischen Strategien sind nicht ausreichend, aber immer noch besser als in anderen Weltregionen. Viele Länder nehmen sich die europäischen Nachhaltigkeitslösungen zum Vorbild.

Die Tatsache, dass 120 Millionen Europäer von Armut bedroht sind, ist ein Alarmsignal dafür, dass unser Wirtschaftsmodell gescheitert ist. Die EU braucht eine Strategie, mit der Sicherheit, anständige Arbeit und gute, bezahlbare Lebensstandards mit den ökologischen Grenzen des Planeten Erde in Einklang gebracht werden. Auf diesem dicht besiedelten Kontinent kann Nachhaltigkeit nur in jenem Geiste der Solidarität erreicht werden, der die Römischen Verträge, die Grundlage der Europäischen Union, prägte. Nachhaltigkeit kann eine gemeinsame Vision für alle Europäer sein – und die Marke, die den Kontinent vereint.


Karl Falkenberg ist Seniorberater beim European Political Strategy Centre (EPSC), der Denkfabrik der Europäischen Kommission.
karl.falkenberg@ec.europa.eu

 

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