Westafrika

Doppelmoral belastet Ansehen westlicher Regierungen in Westafrika

Die Wirtschaftsgemeinschaft westafrikanischer Staaten (ECOWAS– Economic Community of West African States) hat seit 2021 eine Reihe erfolgreicher Militärputsche in Guinea, Mali, Burkina Faso und Niger verzeichnet. Im Interview schätzt der ghanaische Politikwissenschaftler Vladimir Antwi-Danso westafrikanische Perspektiven für Demokratie und wirtschaftliche Integration ein.
„In der ganzen muslimischen Welt kochen die Gefühle hoch.“ Pro-Palästina-Demonstration in Dakar während der Gaza-Krise von 2014.  picture alliance / ASSOCIATED PRESS / Jane Hahn „In der ganzen muslimischen Welt kochen die Gefühle hoch.“ Pro-Palästina-Demonstration in Dakar während der Gaza-Krise von 2014.

Verändern die neuen Militärregierungen das Wesen der ECOWAS?
Diese regionale Organisation ist eine Familie von Nationen, die von wirtschaftlicher Integration und entsprechenden Synergien profitieren will. Wir mussten früh lernen, dass diese Ambition eine Sicherheitsdimension hat, denn in den 1980er- und 1990er-Jahren tobten Bürgerkriege in einigen Mitgliedsländern. Die ECOWAS entwickelte Sicherheitsmechanismen und bekam die Gewalt in den Griff. Mittlerweile gibt es aber neue Gefahren. Der Terrorismus hat zugenommen und führt, von der internationalen Arena ausgehend, zu innerstaatlichen Problemen. Bislang fehlt es der ECOWAS an Gegenmitteln. In dieser Lage erleben wir nun, was ich „systemische Staatsstreiche“ nenne. In den Augen vieler sind sie aus zwei Gründen akzeptabel: Sie verhindern die Implosion des jeweiligen Staates, und ihre Anführer sind hochrangige Generäle. Obendrein fließt praktisch kein Blut, und die Bevölkerung unterstützt das Militär. Folglich fällt es der ECOWAS schwer, einzugreifen.  

Heißt das, die neuen Regime sind demokratisch legitim?
Die Antwort ist Ja und Nein. Sie sind legitim, weil sie einen Staatskollaps verhindern, aber nicht in dem Sinn, dass eine gewählte Regierung entfernt werden dürfte. Die Lage ist paradox. Was immer das Militär tut, es macht etwas falsch. 

Wir sehen Fernsehbilder aus den Hauptstädten. Vielleicht genießen die Putschisten im ländlichen Raum nicht dieselbe Unterstützung. 
Das mag sein, aber es kommt auf die großen Städte an. Die Landbevölkerung hat praktisch keinen Einfluss. Auch gewählte Regierungen kümmern sich meist kaum um ihre Wünsche und Bedürfnisse. 

Plagt die große Kluft zwischen formaler Staatstätigkeit und dem Leben in abgelegenen Dörfern ganz Westafrika? 
Ganz Afrika, würde ich sagen. Die Behörden sind in den Städten, und außerhalb der großen Zentren bleiben weite Landstriche unregiert. In Ländern wie Ghana oder Kenia, wo Institutionen im gesamten Staatsgebiet wirksam sind, ist es etwas besser, weil auch ländliche Gemeinschaften eine Vorstellung davon haben, was der Staat für sie leisten soll. Das ist aber die Ausnahme, nicht die Norm. In allen Putschländern Westafrikas gibt es große unregierte Gegenden voller wütender junger Männer. Das Machtvakuum füllen bewaffnete Gangs, Kriegsherren und Terroristen. Teils bieten sie sogar Erwerbsperspektiven. Historische Konflikte zwischen ethnischen Gruppen schwelen derweil problemverschärfend weiter.   

Ist Religion ein Problem – Islamisten behaupten ja, für den Glauben zu kämpfen?  
Nein, der Religion lässt sich Terrorismus nicht vorwerfen. Sie wird von den Gewalttätern manipuliert. Sie nutzen die Ablehnung der kosmopolitischen Hauptstadtkultur und beanspruchen, anders zu sein. Der Name der nigerianischen Terrororganisation Boko Haram bedeutet denn auch: „Westliche Bildung ist bösartig“. Agitation fällt leicht mit der Behauptung, andere wollten Menschen unseres Glaubens töten. Ich möchte aber ganz klar sagen: Der Koran fordert nichts von dem, was da passiert, und die meisten Terroristen haben die heiligen Schriften auch nicht ernsthaft gelesen. 

Wirkt sich die Gaza-Krise auf Westafrika aus?
Ja, in der ganzen muslimischen Welt kochen die Gefühle hoch. Die Menschen denken, „die“ Juden wollten Angehörige des islamischen Glaubens töten. Dass westliche Regierungen Israel bedingungslos unterstützen, verschärft die Lage. Zu Recht bezeichnet ihr die russische Flächenbombardierung der Ukraine als Kriegsverbrechen. Aber wenn ähnliche Bombenflüge Israels in drei Wochen rund 8000 Menschen, einschließlich 3000 Kinder, töten, sprecht ihr vom Selbstverteidigungsrecht. Eure eklatante Doppelmoral schadet eurem Ansehen. 

Aber Israel bekämpft tatsächlich Terroristen – und das Kriegsrecht fordert nur, dass ausschließlich militärisch relevante Ziele angegriffen werden, aber nicht, dass jedes zivile Leben geschont wird. 
Richtig, aber woher wissen wir, ob Israel nur militärisch relevante Ziele beschießt? Die Rhetorik ist abscheulich. Manche israelischen Spitzenleute reden von „menschlichen Tieren“ oder der Notwendigkeit einer weiteren „Nakba“, wie die Massenvertreibung hunderttausender palästinensischer Menschen 1948 auf Arabisch heißt. In muslimischen Augen weltweit sieht es nach Kollektivbestrafung aus, wenn mehr als 2 Millionen Menschen von Wasser, Strom, Lebensmitteln und Arzneimitteln abgeschnitten werden. Westliche Regierungen beschuldigen alle, welche die Netanjahu-Regierung kritisieren, des Antisemitismus. Dabei ist nichts an Israels tödlichen Militäraktionen spezifisch jüdisch. Viele prominente Juden sind mit dieser Strategie nicht einverstanden, und sie äußern ihre Sicht in internationalen Zeitungen wie dem Guardian oder der New York Times. Tatsächlich ist Israelkritik noch nicht einmal unbedingt antizionistisch, denn wer auf der Zweistaatenlösung beharrt, erkennt das Existenzrecht Israels an. Eure Spitzenpolitiker wollen, dass jede und jeder die Hamas verurteilt, die tatsächlich eine abscheuliche Gewaltorganisation ist. Sie wären aber glaubwürdiger, wenn sie nicht seit Langem dazu schwiegen, wie Israel internationales Recht bricht. Es ist illegal, permanente Siedlungen auf besetztem Land zu bauen. Westliche Regierungen predigen Menschenrechte, aber sie gehen nicht darauf ein, was Amnesty International und Human Rights Watch Israels Apartheid nennen. Sie werfen den zivilgesellschaftlichen Gruppen Antisemitismus vor, äußern sich aber nicht zu der detaillierten juristischen Argumentation. 

Haben die EU und ihre Mitglieder in der gesamten ECOWAS Vertrauen verloren?
Ihr Ansehen sinkt jedenfalls schnell. Selbst ich als Wissenschaftler traue der EU und den UN immer weniger. Allzu oft helfen uns internationale Regeln nicht. Warum hatten wir in der Corona-Pandemie keinen Impfstoff, obwohl laut den Regeln der Welthandelsorganisation intellektuelles Eigentum die Gesundheitspolitik nicht behindern darf? Warum ist es okay, wenn US-Regierungen angebliche Terroristen im Ausland ohne Prozess hinrichten lassen? Warum sind Menschenrechte egal, wenn jemand im Mittelmeer treibt? Diese Liste ließe sich fortsetzen. 

Heißt das, dass Afrikaner nicht mehr an Demokratie glauben? 
Das große Problem ist, dass gewählte Regierungen in Afrika überwiegend nicht geliefert haben, was die Leute brauchen. Der Mangel an Infrastruktur, sozialen Diensten und Lebenschancen ist bedrückend. Zu viele Menschen denken, es sei egal, wem sie ihre Stimme geben.

Gibt es etwas, was die EU und ihre Mitglieder tun sollten?
Es wäre gut, wenn die EU einen Plan mit Lösungen für riesige Weltprobleme formulieren würde. Ich bezweifle aber, dass sie die nötige gemeinsame Entschlusskraft und Handlungsfähigkeit hat. Die Welt hat keine internationale Führung, und die USA haben jeden Anspruch darauf verspielt. Vielleicht wird China sich der Aufgabe stellen. 

Wenn ich mir Chinas Allianzen, wie etwa die BRICS, anschaue, sehe ich kaum Kohärenz. Das Einzige, was Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika verbindet, ist die Ablehnung des Westens. Derweil ist chinesische Politik für Entwicklungsländer oft schmerzhaft – etwa, wenn Peking Schuldenerlass ablehnt. 
Das stimmt. Die Welt steht auf der Kippe, aber niemand bietet brauchbare Lösungen an. 

Gilt das auch für die ECOWAS – sie steht ohne Lösungsperspektive auf der Kippe?
Ich halte die Desintegration dieses regionalen Blocks für möglich, wenn ein Land nach dem anderen abrückt. Die Reaktion auf die Militärputsche war insofern problematisch, als sie die neuen Regime ein Stück weit in eine Allianz gedrängt hat. Es war bizarr, wie ECOWAS-Spitzenleute sich auf ein gemeinsames Protokoll von 2001 beriefen, das nicht verfassungsgemäße Regierungswechsel untersagt, obwohl sie systematisch geschwiegen hatten, wenn zivile Regierungspolitiker Verfassungen manipulierten. Alassane Ouattara, der Präsident der Côte d’Ivoire, ermahnte peinlicherweise malische Gesprächspartner, sich an die Verfassung zu halten, nachdem er sich selbst eine weitere, von seiner Verfassung nicht vorgesehene Amtszeit gegönnt hatte. Dass viele Leute jetzt denken, die ECOWAS agiere bei Versuchen, Militärregime einzuhegen, im westlichen Auftrag, macht die Dinge nicht leichter. Zu wenige Menschen verstehen, dass Westafrika als Ganzes legitime und wirksame Regierungsführung braucht, was aber autoritäre Herrschaft vermutlich nicht leistet. Es ist aber schwer, diese Botschaft zu vermitteln, weil gewählte Regierungen das ebenfalls nicht geleistet haben. Jegliche Schwächung oder gar Desintegration der ECOWAS erschwert aber die wirtschaftliche Integration, die wir für mehr Wohlstand brauchen. Und das geht über Westafrika hinaus. Ohne die ECOWAS kann es Afrikas kontinentale Freihandelszone nicht weit bringen. 

Vladimir Antwi-Danso ist Dekan und akademischer Direktor des Ghana Armed Forces Command & Staff College (GAFCSC) in Accra. 
vladanso@yahoo.com                                                                                                                                                

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