Editorial

Graduelle Gesetzlosigkeit

Gewalt und Terror prägen die Länder, in denen staatliches Recht keine Bedeutung hat. Völlige Gesetzlosigkeit bedeutet Bürgerkrieg. Doch so weit muss es gar nicht kommen, damit die Missachtung offizieller Normen verbunden mit staatlicher Unfähigkeit – oder vielleicht auch nur mangelndem politischen Willen – zu ihrer Durchsetzung schweren Schaden anrichtet.

Verfassungsansprüche und gesellschaftliche Wirklichkeit stimmen nirgends völlig überein. Das ist klar. Doch das heißt nicht, dass das Ausmaß der Kluft, die sich dazwischen auftut, unwichtig wäre. Es ist ein gewaltiger Unterschied, ob die Schattenwirtschaft wie in Pakistan um die 40 Prozent des Bruttoinlandsprodukts ausmacht oder wie in Österreich eher bei zehn Prozent liegt. Exakte Zahlen gibt es naturgemäß nicht. Wo die Schattenwirtschaft den Lebensalltag ähnlich stark prägt wie die reguläre Ökonomie, gedeiht die organisierte Kriminalität – samt Korruption und Killerbanden. Das beweisen nicht nur Warlords im Kongo oder in Afghanistan. Mexikanische Drogenkartelle, die Camorra in Neapel oder das Bandenwesen in South-Central Los Angeles operieren nach demselben Muster.

In der Tat sind Sorgen um die Demokratie überall angebracht, wo Steuerhinterziehung und Kapitalflucht ebenso üblich sind wie Arbeitsverhältnisse ohne Rechtsschutz und soziale Sicherung. Denn dort entgehen dem Staat Ressourcen für gemeinwohlorientierte Politik, und von rechtlosen Menschen ist kein allzu großes zivilgesellschaftliches Engagement zu erwarten. Der Raum für diskursiv-partizipative Willensbildung wird umso enger, je mehr Menschen zu dem Urteil gelangen, dass zur Wahrung ihrer Interessen jedwedes Mittel gerechtfertigt ist. Eine Agenda für Umweltschutz oder die Bereitstellung anderer öffentlicher Güter ist dann gar nicht denkbar.

Es ist schwierig, die richtige Balance aus sinnvoller, durchsetzbarer Regulierung und möglichst großer, individueller Freiheit zu finden. Klar ist: Ohne sozialen Ausgleich und ein Mindestmaß an Chancengerechtigkeit genießen Freiheit nur die ökonomisch und militärisch Starken, weil ihnen Schwächere schutzlos ausgeliefert sind. Allerdings ist auch nicht alles, was gerecht und wünschenswert erscheint, politisch praktikabel. Überregulierung durch offiziell gültiges, aber nicht implementierbares Recht führt aber seinerseits zur Erosion staatlicher Autorität. Ein anschauliches Beispiel ist Indien – aber auch Italien.

Auch wir Deutschen haben uns längst an Korruption und Schwarzarbeit gewöhnt. In der Bauwirtschaft herrschen raue Sitten, private Haushaltshilfen verdienen ihr Geld meist ohne Aufenthalts- oder Arbeitsgenehmigung. lllegale Migration ist ein paneuropäisches Phänomen, aber die Entscheidungsträger schrecken davor zurück, neue Regeln zu definieren, die praktikabel und sinnvoll wären.

Entwicklungspolitiker aus reichen Nationen diskutieren gern über Governance-Schwächen armer Staaten. Richtig daran ist, dass Gesetzlosigkeit marginalisierte und mittellose Menschen besonders quält, Frieden und Stabilität bedroht und der Bereitstellung öffentlicher Güter im Weg steht.

Kluge Rhetorik bedeutet aber leider nicht, dass bei einem selbst alles wie beschworen liefe. Die Regierungen der Gebernationen könnten viel dafür tun, dass ihre Glaubwürdigkeit zu­nimmt. Das fängt bei der vollständigen Ächtung von Folter an und führt über stimmige Migrations- und Handelspolitik bis hin zur Erfüllung aller Klimaschutzpflichten.

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