Entwicklungspolitik

Ungleichheit beseitigen

Der Bestseller von Thomas Piketty „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ hat eine Diskussion zur wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich ausgelöst. Pikettys Untersuchungen beschränken sich auf die heute reichen Länder. Ungleichheit ist aber auch ein Problem in armen Ländern. Die Entwicklungspolitik kann bei der Lösung mithelfen.
Mit Hilfe eines Mikrokredits konnte diese Kenianerin ein Eisenwarengeschäft eröffnen. Philippe Lissac/GODONG/Lineair Mit Hilfe eines Mikrokredits konnte diese Kenianerin ein Eisenwarengeschäft eröffnen.

Piketty weist nach, dass die Ungleichheit seit Bestehen des Kapitalismus ständig zugenommen hat. Mit kriegsbedingten Unterbrechungen hat sich in den meisten Industrieländern ab den 1970ern die Schere zwischen Arm und Reich rapide geöffnet. Heute verfügen die reichsten zehn Prozent der US-Bevölkerung über etwa die Hälfte des Einkommens. Die Realeinkommen des Durchschnittsverdieners stagnierten hingegen. Noch extremer sieht es bei der Vermögensverteilung aus: So verfügen in den USA die reichsten 0,1 Prozent zusammengenommen ungefähr über das gleiche Vermögen wie die ärmsten 90 Prozent der Bevölkerung. In den meisten Entwicklungsländern sind Einkommen und Vermögen noch ungleicher verteilt als in Industrieländern. Jedoch konnten wir bisher darauf hoffen, dass die Ungleichheit im Entwicklungsprozess zurückgeht. Dies war in der Ver­gangenheit in den meisten erfolgreichen Ländern der Fall und entspricht auch dem, was die ökonomische Theorie vorhersagt. Die reale Entwicklung verlief aber anders: Seit 1990 hat sich der sogenannte Gini-Koeffizient, der wohl bekannteste Indikator zur Messung von Ungleichheit, in vielen Entwicklungsländern verschlechtert – besonders stark in Asien, im Nahen Osten, in Nordafrika und im Pazifischen Raum. Besonders nach der Finanzkrise 2007/8 ist die Vermögensungleichheit in den meisten Ländern stark angestiegen.

Die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich ist nicht nur ein moralisches Problem. Sie trifft unsere Gesellschaften im Kern. Die politische Stabilität in Deutschland und anderen Industrieländern nach dem Zweiten Weltkrieg sowie das „Wirtschaftswunder“ basierten maßgeblich auf politischer und ökonomischer Teilhabe und dem Entstehen einer breiten Mittelschicht („Wohlstand für alle“). Die Weltbank hat empirisch festgestellt: Da, wo es eine hohe Konzentration von Einkommen und Vermögen gibt, steigen auch Instabilität und Konfliktpotential. Ungleichheit kann auch demokratische Strukturen untergraben, indem der Einfluss von Reichen oder Oligarchen zunimmt. Dies ist nicht nur, aber auch ein Problem für Entwicklungsländer, wo rechtsstaatliche Strukturen häufig noch nicht gefestigt sind.

Daneben spricht vieles dafür, dass hohe Ungleichheit auch zu Finanzmarktinstabilität beiträgt. In der Zeit vor der Finanzkrise 2007 hat sich die Kluft zwischen Arm und Reich in den großen Industrieländern  stark erhöht (das Gleiche war vor Ausbruch der „Großen Depression“ von 1929 der Fall). Um die stagnierenden Realeinkommen zu kompensieren und die Wirtschaft anzukurbeln, wurden in vielen Ländern billige Kredite an ärmere Haushalte ermöglicht – wie Hypothekenkredite in den USA. Das Geld hierfür kam von den reichen Haushalten, die einen Teil ihrer steigenden Einkommen nicht realwirtschaftlich, sondern in Finanzwerte investierten. Überschuldung der ärmeren Privathaushalte war die Folge. Die Reichen legten ihr Geld auch in ausländische Finanzwerte an, häufig in Entwicklungsländern, aufgrund der dort höheren Erträge. Entwicklungsländer sind diesen kurz­fristigen Finanzflüssen mehr und mehr ausgesetzt und können sich nur sehr schlecht dagegen wehren.

Jahrzehntelang wurde die Logik vertreten, nach der Ungleichheit gut ist, weil sie Innovation, Unternehmertum und Investitionen ansporne. Der IWF hat dagegen belegt, dass ein hohes Maß an Ungleichheit längerfristig die wirtschaftliche Dynamik gefährdet, weil Investitionen in Gesundheit und Bildung ausbleiben und der so­ziale Frieden untergraben wird. Wirtschaftswachstum ist nur dann nachhaltig, wenn es auch breite Bevölkerungsteile erreicht.


Folgen für die ­Entwicklungsländer

Vor diesem Hintergrund sollten arme Länder ihre Entwicklungsstrategien überdenken und anpassen. Sie müssen ihre sozialen Investitionen verstärken, soziale Sicherungssysteme aufbauen und sicherstellen, dass Wachstum auch den breiten Massen zugute kommt. Lateinamerikanische Länder haben es in den vergangenen Jahren geschafft, das hohe Niveau von Ungleichheit etwas zu senken. Von den positiven Erfahrungen wie den „Conditional Cash Transfers“ sollten sich andere Länder inspirieren lassen. Es kann natürlich kein Patentrezept für alle Länder geben, es gibt jedoch ein paar allgemeingültige Empfehlungen.

Die Steuerrate übersteigt nur in wenigen Entwicklungsländern 15 Prozent – gegenüber etwa 30 Prozent in Industrieländern. Entwicklungsländer müssen ihre Steuer- und Abgabensysteme verbessern, auch um mehr Fiskalspielraum für soziale Investitionen zu erschließen. Eine ausreichende Steuerbasis ist auch sehr wichtig für die Herausbildung demokratischer Gesellschaften. Hierfür bieten sich verschiedene Möglichkeiten an:

  • Einkommenssteuersysteme sollten frühzeitig auf- und ausgebaut werden.
  • Steuern auf Vermögen, Kapital, Land und natürliche Ressourcen bieten eine weitere Option.
  • Entwicklungsländer sollten umweltschädliche Energiesubventionen weitgehend ersetzen und möglichst Umweltsteuern einführen.

Entwicklungsländer haben in letzter Zeit ihre Finanzmärkte geöffnet und auch internationale Staatsanleihen ausgegeben. Damit verschaffen sie sich Zugang zu Kapital. Dadurch werden sie aber verletzlicher gegenüber kurzfristigen Kapitalzu- und -abflüssen. Um die katastrophalen Folgen von Finanz- und Bankenkrisen zu verhindern, müssen sie geeignete Instrumente entwickeln (wie kontrazyklische Kapitalanforderungen und Steuern auf kurzfristige Kapitalzuflüsse). Der Internationale Währungsfonds (IWF) hat sich gegenüber solchen unkonventionellen Instrumenten, wenn auch sehr vorsichtig, geöffnet.

Der Aufbau eines industriellen Sektors hat die Entwicklung der Industrie- und auch noch die der Schwellenländer vorangetrieben. Vieles spricht dafür, dass dieser Weg für nachfolgende Entwicklungsländer sehr viel schwieriger ist. So ist es heute durch die digitale Revolution möglich, industrielle Prozesse weitgehend zu automatisieren. Die Erwartung, dass China aufgrund steigender Lohnkosten arbeitsintensive Fertigungen in großem Umfang aufgibt und damit ärmeren Ländern Platz macht, scheint unbegründet. Jedoch eröffnet die digitale Revolution auch Chancen für arme Länder. So wird es sehr viel leichter, wettbewerbsfähige Dienstleistungsbranchen aufzubauen und Produkte direkt über das Internet zu vermarkten. Entsprechend hat sich der Export von handwerklichen Produkten aus Entwicklungsländern über „E-commerce“ in den vergangenen Jahren stark erhöht.

Klar ist, dass es einer gezielten Strategie und aktiver Regierungspolitik bedarf, um diese Entwicklungswege zu erschließen und Sackgassen zu verhindern. Wichtig ist dabei auch, den armen und benachteiligten Schichten besseren Zugang zu Produktionsfaktoren (Land, Kredit, Wissen) zu ermöglichen und so ihr ökonomisches Potential besser zu mobilisieren. So werden Frauen immer noch im Landrecht, beim Kreditzugang und im Erbrecht diskriminiert.


Implikationen für die internationale Zusammenarbeit

Entwicklungsinstitutionen haben das Problem der Ungleichheit erkannt und wollen es angehen. Entwicklungspolitik kann dabei eine wichtige Rolle spielen, etwa durch die Unterstützung bei der Verbesserung von Steuersystemen oder auch, indem Budgethilfen an die Verbesserung der Steuerrate gebunden werden. Aber bekanntlich sind die Gelder für öffentliche Entwicklungshilfe (official development assistance – ODA) begrenzt. Außerdem handelt es sich auch hier nicht um ein klassisches Entwicklungsthema. Vielmehr müssen alle Politikbereiche zusammenwirken.

Ein Beispiel: Entwicklungsländern geht jährlich mehr als eine Milliarde Dollar durch legale und illegale Steuerflucht verloren. Es bedarf einer verstärkten internationalen Kooperation, um dieses Problem in den Griff zu bekommen. Die Finanzierungskonferenz in Addis Abeba im Juli hat dieses Thema auf die Tagesordnung gesetzt und – wenn auch relativ unverbindliche – Vereinbarungen getroffen. Ebenso ist in dem neuen Katalog der Nachhaltigen Entwicklungsziele (SDGs), die im September in New York verabschiedet werden, auch das Ziel aufgenommen, die Ungleichheit zu vermindern. Es wäre wichtig, diesen Zielen und Vereinbarungen nun konkrete Verpflichtungen und Ziel­indikatoren folgen zu lassen. So wurde etwa der Vorschlag eingebracht, die illegalen handelsbezogenen Geldflüsse bis zum Jahr 2030 auf die Hälfte zu reduzieren. Solche konkreten Verpflichtungen könnten zum Beispiel in den Indikatoren aufgenommen werden, die derzeit von der UN erarbeitet werden, um die neuen Nachhaltigen Entwicklungsziele zu operationalisieren.

Die Weltwirtschaft wächst derzeit kaum mehr, und die Investitionen sind in vielen Ländern auf einem Tiefpunkt. Gleichzeitig drängt die Zeit, die Wirtschaftssysteme klimafreundlich umzugestalten. Ein „Investitionspakt für Nachhaltigkeit“ wäre im Interesse aller. Richtig konzipiert, würde er Wachstum schaffen, Ungleichheit und das Risiko eines weiteren Finanzcrashs reduzieren sowie die ökologische Transformation ermöglichen. Der Investitionspakt müsste eigentlich durch die Mittel finanziert werden, die die Super-Reichen in Vermögenswerte investieren, etwa durch eine breit angelegte ­Finanztransaktionssteuer oder auch eine allgemeine Steuer auf kurzfristige internationale Kapitalflüsse. Dass dies sehr schwierig ist, zeigt die aktuelle Diskussion um die Einführung einer Finanztransak­tionssteuer.

Eine weitere Möglichkeit: Der konzessionäre Spielraum der Weltbank könnte aufgestockt werden, indem die International Development Association (IDA) – ein Weltbank-Fonds für die Ärmsten – Mittel auf dem Kapitalmarkt aufnimmt. Dadurch wäre eine Verdoppelung des Ausleihvolumens möglich – bis zu 20 Milliarden Dollar im Jahr zusätzlich. Diese Mittel könnten dann gezielt für Klimaschutz und Nachhaltigkeit eingesetzt werden.

Der Beitrag basiert auf einem ausführlichen Artikel, der im März dieses Jahres als Discussion Paper der Universität Göttingen erschienen ist.

Jürgen K. Zattler ist Unterabteilungsleiter für europäische und multilaterale Entwicklungspolitik im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung.
juergen.zattler@bmz.bund.de


Literatur:
Piketty, T., 2014: Das Kapital im 21. Jahrhundert. München: Beck.Zattler, J. K., 2015: The Debate on Growing Inequality – Implications for Developing Countries and International Co-operation. Courant Research Centre, Universität Göttingen, Discussion Paper Nr. 169.

 

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