Politische Paradigmen

Klare Sprache über Volkswirtschaftslehre

Im Gegensatz zu vielen Kollegen interessiert sich Dani Rodrik, Volkswirtschaftsprofessor an der Harvard University, nicht nur für Marktdynamiken. Er sagt Dinge, die politische Entscheidungsträger beherzigen sollten, und die Soziologen und Politikwissenschaftlern längst klar sind. Unter anderem fordert er politische Gestaltungsräume für Entwicklungsländer.
Keine kohärente Vision: BRICS-Spitzenpolitiker 2017 in Xiamen, China. picture-alliance/AP Images Keine kohärente Vision: BRICS-Spitzenpolitiker 2017 in Xiamen, China.

In seinem neuen Buch „Straight talk on trade“ betont Rodrik, dass Märkte sich weder selbst erschaffen noch selbst regulieren. Sie können sich auch nicht selbst legitimieren oder stabilisieren. Sie hängen von vielfältigen staatlichen Rahmenbedingungen ab, wie der Wissenschaftler ausführt, weshalb Regierungen für wichtige Dinge sorgen müssen. Dazu zählt er unter anderem:

  • Investitionen in Verkehrs- und Kommunikationsinfrastruktur,
  • die Durchsetzung von Verträgen und
  • Arrangements, die die Einkommensverteilung mit sozialen Normen in Einklang bringen.

Aus Rodriks Sicht beruhen „gut funktionierende, nachhaltige Märkte auf einer breiten Vielfalt von Institutionen, die wesentliche Funktionen der Regulierung, Umverteilung, Geldwertstabilität, Haushalts­solidität und Konfliktschlichtung erfüllen”.

Da gängige Doktrinen Märkten allzu große und staatlichen Institutionen allzu geringe Bedeutung beimessen, kann das nicht oft genug gesagt werden. Rodrik warnt, Ökonomen täten gern so, als offenbarten ihre Modelle ewige Weisheiten, und Politiker glaubten dann, diese seien wichtiger als die Einsichten anderer Sozialwissenschaften.

Rodrik sieht die Dinge ganz anders. Die Volkswirtschaftslehre (VWL) liefere keine Wahrheiten, die immer und überall gelten. Ihre Erkenntnisse seien im Gegenteil höchst situationsspezifisch, weil mathematische Modelle auf recht engen Parametern beruhen. Die Ergebnisse seien sehr präzise, passten aber nur auf empirische Situa­tionen, für die diese Parameter gelten.

Der prominente Professor fordert seine Kollegen auf, Politiker auf diese Begrenztheit hinzuweisen. Politik müsse suboptimal ausfallen, wenn die Entscheidungsträger auf die Plattitüde, Markt sei immer besser als Staat, hereinfielen. Um große weltweite Herausforderungen wie Globalisierung, Ungleichheit, technischen Fortschritt oder Klimawandel zu meistern, komme es vielmehr auf die richtige Balance zwischen Markt und Staat an.

Da Rodrik nationale Institutionen und Regierungsführung wichtig findet, überrascht es nicht, dass er keine Blaupausen für alle Länder anbietet. Im Gegenteil ruft er zu kontextspezifischer und innovativer Politik auf. Entscheidungsträger sollten sich von konventionellen Gedankengebäuden verabschieden. Um Stillstand zu überwinden, wünscht er sich innovative Konzepte, beispielsweise auf folgenden Feldern:

  • Sowohl in Industrie- wie in Entwicklungsländern hält er Infrastrukturinvestitionen für wesentlich. Staatsausgaben, die Werte schaffen, seien anders als konsumtive Ausgaben zu bewerten.
  • Rodrik spricht sich für Industriepolitik aus – und zwar besonders mit Blick auf umweltfreundliche Lösungen (siehe auch Tilman Altenburg und Wilfried Lütkenhorst in E+Z/D+C e-Paper 2018/01, S. 16). Ihm zufolge unterschätzen konventionelle Ökonomen das Ausmaß, in dem Industrie­nationen – und besonders die USA – die Entwicklung von High-Tech-Branchen aktiv vorangetrieben hätten. Das Internet etwa wurde vom US-Militär entwickelt, und staatlich finanzierte Universitätsforschung bilde oft die Basis für Unternehmensgründungen.
  • Rodrik findet, Regierungen sollten sich noch stärker in Innovation einmischen. Sie könnten mit eigenen Investitionsfonds Unternehmensgründungen unterstützen. Im Erfolgsfall sollten die Erträge dann für Sozialpolitik genutzt werden. Es komme darauf an, die Vor- und Nachteile des Fortschritts so zu kombinieren, dass alle profitieren. Auf den „Wohlfahrtsstaat“ könne dann der „Innovationsstaat“ folgen.
  • Mit Blick auf die Entwicklungsländer schreibt Rodrik, sie dürften sich nicht darauf verlassen, dass der Rohstoffboom ihr Wachstum weiterhin antreibe. Die großen Aufgaben seien „der Erwerb von Wissen und beruflicher Kompetenz, die Stärkung von Institutionen und Regierungsführung sowie der Strukturwandel von Branchen mit geringer Produktivität zu solchen mit hoher Produktivität“. Letzterer sei typischerweise mit Industrialisierung verbunden.

Rodrik hat 2007 ein bekanntes Unmöglichkeitstheorem formuliert. Es besagt, dass Demokratie, nationale Souveränität und globale Wirtschaftsintegration nicht gleichzeitig möglich sind. Jeweils zwei seien kompatibel, aber nicht alle drei. Demokratie hat für ihn Vorrang, und in „Straight talk“ führt er aus, dass sie auf globaler Ebene kaum möglich ist. Folglich sollten Regierungen intelligente Konzepte entwickeln, die der Situation ihrer Länder und den Wünschen ihrer Menschen entsprächen. Technokratische Herrschaft, die Länder internationalen Abkommen unterwerfe, die letztlich den Interessen internationaler Investoren dienten, unterminiere dagegen das Bürgervertrauen. Seinem Urteil nach schränken globale und bilaterale Verträge über Dinge wie Investorenrechte oder intellektuelles Eigentum staatliche Souveränität allzu sehr ein.


Demokratische Globalisierung

Dem Volkswirtschaftsprofessor schwebt eine andere Art von Globalisierung vor. Statt den Umfang des Weltmaßes und grenzüberschreitende Investitionen zu maximieren, gelte es, die Demokratie zu fördern. Die EU stehe entsprechend vor der Wahl, entweder bereits vollzogene Integration rückgängig zu machen, oder die unionsweite Entscheidungsfindung zu demokratisieren.

Rodrik stellt konventionelles Denken auf erfrischende Weise in Frage. Sein Vorschlag, Globalisierung umzudefinieren, wirkt indessen utopisch. Er führt selbst aus, dass die etablierten Wirtschaftsmächte die Dynamik und Glaubwürdigkeit verloren hätten, die sie für weltweite Führungsrollen bräuchten, wobei die erratische Regierungsführung von US-Präsident Donald Trump die Probleme noch verschärfe. Andererseits fallen laut Rodriks Urteil auch die BRICS (Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika) als Führungsmächte aus. Sie steckten in pauschaler Ablehnung des Westens fest und böten keine kohärente Vision an. Jedes BRICS-Land verfolge zudem eng verstandene nationale Interessen. Obendrein fehle den autoritären Regimen von China und Russland die moralische Autorität, die für globale Führungsaufgaben nötig sei.

Wenn aber weder die G7 noch die BRICS die Weltgemeinschaft führen können, wer soll dann den Wandel zur demokratiefördernden Globalisierung vorantreiben? Und welche Rolle spielt, dass die Regierungsführung in wichtigen Ländern – Indien, Brasilien und besonders den USA – derzeit autoritärer wird? Es gibt keine einfachen Lösungen – weder auf nationaler noch globaler Ebene. Das heißt aber nicht, dass Rodriks Appell, innovative Konzepte zu entwickeln und zu testen, Unfug wäre.


Quellen

Rodrik, D., 2007: The inescapable trilemma of the world economy. Blog post:
http://rodrik.typepad.com/dani_rodriks_weblog/2007/06/the-inescapable.html

Rodrik, D., 2018: Straight talk on trade. Ideas for a sane world economy. Princeton and
Oxford: Princeton University Press.

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