Jenseits der Weltverneinung

Zum guten Ton hinduistischer Organisationen gehört heute auch die Forderung nach sozialer Entwicklung und Besserstellung der Armen. Reformer wie der Geistliche Swami Vivekanada oder der religiös inspirierte Politiker Mahatma Gandhi haben im vergangenen Jahrhundert zu diesem Sinneswandel beigetragen.

[ Von Martin Kämpchen ]

Was hat Religion mit Entwicklung zu tun? Gehören sie nicht zwei unterschiedlichen Sphären an? Entwicklung betrifft den materiellen Fortschritt der menschlichen Gesellschaften, während Religion das seelische Heil durch transzendente Wahrheiten und den Glauben an Erlösung anstrebt. So scheint es auf den ersten Blick. Schon beim zweiten wird klar, dass materieller Fortschritt ohne ideelle Werte wie Demokratie, Menschenwürde und Ehrlichkeit kein wirklicher Fortschritt ist – oder allenfalls einer Gruppe in der Gesellschaft dient. Spätestens der Zusammenbruch des Kommunismus hat gezeigt, dass Materialismus allein nicht genügt. Wenn wir aber von idellen Werten oder von Humanismus sprechen, ist die Sphäre der Religion nicht mehr weit.

Vermutlich sind Demokratie und Menschenwürde auch ohne Erfahrung von Transzendenz als Grundlage für eine Gesellschaft tragfähig. Doch Humanismus und Transzendenz liegen so nahe beieinander, dass sie oft unmerklich ineinander übergehen und voneinander profitieren.

Dies gilt insbesondere für Indien. Aus jahrzehntelanger Erfahrung weiß ich, dass Inder gleich welcher Religionszugehörigkeit in einen gesellschaftlichen Rahmen hineingeboren werden, in dem es schwer ist, sich einer Transzendenzbindung zu entziehen. Intuitiv oder instinktiv, unterbewusst oder bewusst, mit Magie oder Aberglaube, Astrologie oder Handlesen vermischt, mit Esoterik oder gesellschaftlichem Aktivismus verbunden – irgendwie öffnen sich alle Inder der Transzendenz. Natürlich gab und gibt es Gegenbewegungen.
Die altindische Charvaka-Philosophie versuchte, Normen für gesellschaftliches wie individuelles Leben strikt rational zu begründen. Im heutigen Indien berufen sich regional wichtige Parteien auf den Atheismus – in West-Bengalen und Kerala tun das die Kommunisten und in Tamil Nadu die dravidischen Parteien.


„Kein Mensch ist Atheist“

Allerdings gehört die Charvaka-Philosophie nicht zum Kanon der akzeptierten Philosophien, sie ist ein unorthodoxer Seitentrieb, sogar ein Kuriosum. Und in den Alltag der Parteimitglieder in West-Bengalen, Kerala und Tamil Nadu haben sich viele religiöse Rituale eingeschlichen. Atheismus scheint in Indien so fremd, dass Mahatma Gandhi rundweg sagen konnte: „Kein Mensch auf der Welt ist ein Atheist. Atheismus ist nichts als eine Pose.“

Es heißt oft, in der indischen Bevölkerung sei Religion als Urbedürfnis weiterhin lebendig, weil Indien in seiner kulturellen Entwicklung keine der europäischen Aufklärung ähnliche Phase erlebt habe. Die Reduktion religiöser Ideen und Praktiken auf „das Vernünftige“, auf das zum Fortschritt der Gesellschaft Brauchbare, die im Zeitalter der Aufklärung das europäische Denken polarisierte, hat in Indien nicht stattgefunden.

Die Einflüsse fremder religiöser Gedankensysteme – etwa des Islam durch die muslimischen Eroberer oder des Christentums durch Mission und Kolonisation – haben sich gewiss auf die Lehre und Praxis des Hinduismus ausgewirkt. Der Kontakt mit Europa hat dazu beigetragen, dass zahlreiche gesellschaftliche Irrwege (wie etwa die Wiwenverbrennung) erkannt und teilweise rückgängig gemacht wurden. Doch die normale Reaktion war, Einflüsse zu absorbieren und zu „hinduisieren“. Sie wurden in gewohnte Denk- und Gefühlsstrukturen integriert und dabei entscheidend verändert.

Indiens Alltag wird auf vielfältige Weise von reli­giösen Anschauungen und Praktiken bestimmt. In seiner klassischen Ausrichtung greift der Hinduismus allerdings nicht in das ein, was wir materiellen Fortschritt nennen. Dieser Hinduismus gilt als „weltverneinend“. „Gott“ (brahman) und „Welt“ bilden einen sich gegenseitig ausschließenden Gegensatz.
Menschen müssen sich entscheiden, ob sie „Gott“ oder „die Welt“ suchen wollen. Wählen sie Gott, müssen sie das weltliche Leben verlassen und sich – von Familie und Gesellschaft abgekehrt – isoliert auf die asketisch-fromme Bemühung konzentrieren, Gott zu „erfahren“ und sich mit seiner Sphäre zu vereinigen.

Der klassische Hinduismus erkennt als einzig Wirkliches und Wahres nur Gott an. Gesellschaft und individuelle Bedürfnisse, ja die gesamte phänomenale Welt, gelten als Illusion (maya), als unwirklich und unecht, als metaphysischer Trug. Der Mensch selbst gehört, mit Ausnahme der gottgleichen, unsterblichen Seele (atman), zur Sphäre der Maya. Ziel der Askese ist, sich abzukehren, um dem Einfluss dieser Sphäre zu entkommen. Das Weltbild bietet weder Raum für eigenen materiellen Fortschritt noch für Wirken zugunsten der materiellen Entwicklung anderer. Streng genommen hat nicht einmal die Förderung der eigenen körperlich-intellektuell-emotionalen Entwicklung darin Platz. Nur eine sehr begrenzte Zahl kann sich aber einer so streng weltverneinenden Askese unterwerfen. Das allgemeine und der Religionsausübung einer breiten Bevölkerungsschicht angemessene Mittel, der angestrebten Absorption in Gott immer näher zu kommen, ist emotionale, ekstatische Gottesverehrung und -liebe (bhakti).

Für Hindus, die in der „Welt“ leben, führt die Kluft zwischen den Pflichten von Beruf, Familie und Gesellschaft einerseits und dem religösen Gebot, sich eben von all dem zu lösen, zu großen inneren Spannungen. Der einflussreiche Hindu-Heilige Shri Ramakrishna lehnte das, was im christlichen Kulturbereich „Nächstenliebe“ genannt wird, zugunsten der Vereinigung mit der göttlichen Sphäre geradezu ab. Aus seiner Sicht wird, wer Gottesliebe ernst meint, davon total beansprucht und hat weder Zeit noch Kraft, sich der Entwick­lung anderer Menschen zu widmen (siehe Kasten vorherige Seite). Das Primat der Gottesliebe gilt ihm zufolge sogar dann, wenn es um unmittelbar abhängige Menschen, etwa Ehefrau oder Kinder, geht.

Der traditionelle Hinduismus hat den Dienst an den Menschen allenfalls selektiv gepredigt: Menschen sollen Familienangehörigen helfen und außerdem jenen, die sich dem asketischen Ideal widmen (Asketen, Mönchen und ihrem Guru), damit diese ohne materielle Sorgen ihr Ziel erreichen können. Sie zu beherbergen und zu ernähren gilt als verdienstvoll. Der Guru besitzt umgekehrt eine geistige und menschliche Verantwortung gegenüber seinen Schülerinnen und Schülern.

Schon der bedeutendste Schüler Shri Ramakrishnas, Swami Vivekananda (1863–1902), predigte dagegen eine Mitverantwortung für die gesamtmenschliche Entwicklung. Vivekananda erhielt in Kalkutta eine im westlichen Sinn moderne Erziehung und besuchte Europa und Amerika zweimal für längere Zeit. Er bezog sich, wie sein Guru, auf die klassische Lehre des Hinduismus, aber er interpretierte sie anders.


Allbejahende Perspektive

Vivekananda sagte: Da Gott (brahman) absolut ist und außerhalb ihm nichts existiert, gehören auch die Menschen, die Natur, dieser ganze Kosmos zu diesem Absoluten. Er argumentierte nicht „weltverneinend“, sondern im Gegenteil „allbejahend“, da Gott alle und alles Gott umfasse. Wenn wir uns diesem Absoluten vereinigen, werden wir auch mit den Menschen eins. Um diese Einheit zu erreichen, müssen wir auch den Menschen dienen. Dieser Dienst an Menschen gilt letzten Endes auch dem persönlichen Ziel der Gottesvereinigung. Aber laut Vivekanandas Lehre kann es keine eigene Weiterentwicklung (auf welcher Ebene auch immer) geben, ohne die Bemühung, auch die Menschheit an der Entwicklung teilhaben zu lassen.

Die Methode des Menschendienstes entlehnte Vivekananda der Bhagavad-Gita, einer der wichtigsten heiligen Schriften des Hinduismus, die „begierde-“ oder „selbstlose“ Arbeit preist. Gemeint ist, dass Menschen immer für das Wohl anderer Menschen tätig sein sollen, ohne sich jedoch von den Ergebnissen beeindrucken zu lassen. Sie sollen nur immerzu nach bestem Wissen das Rechte tun. Weder Freude noch Enttäuschung über Resultate dürfen sie zu mehr oder weniger oder auch nur andere Arbeit veranlassen. Dabei muss ihnen auch die Umgebung – Stille oder Lärm, Menschengedränge oder Einsamkeit – gleichgültig sein. Die Askese besteht eben darin, dass diesen Gottsuchenden Arbeit in jeder Umgebung und immer möglich ist.

Noch einen Schritt weiter als Vivekananda ging Mohandas K. Gandhi, genannt Mahatma. Er lehnte das Ideal des klassischen Hinduismus, nämlich die außerweltliche Askese in der Einsamkeit, ab. Er sagte: „Um mein [religiöses] Ziel zu erreichen, brauche ich nicht den Schutz einer Höhle. Ich trage eine um mich, wäre ich ihrer nur [tiefer] bewußt! [...] Für mich führt der Weg zur Erlösung über die unablässliche Bemühung um den Dienst für mein Land und dadurch für die Menschheit.“ Gandhi lehnte auch Tempelbesuche, Ritualismus und jene gefühlsbetont-ekstatischen Formen von Bhakti ab, die Shri Ramakrishna seinen Schülern mit Nachdruck empfahl.

Gandhis selbstlose Bemühung galt insbesondere jenen Mitmenschen, die am meisten Hilfe benötigten: den Armen, den Rechtlosen, den Kastenlosen und wegen ihrer Verschiedenheit Verfolgten. Diese Hilfe war nicht bloß humanitärer Art, sondern sie besaß, wie bei Vivekananda, ein starkes geistiges Fundament. Es lässt sich, abgekürzt, mit zwei Begriffen charakterisieren: Wahrheit (satya) und Gewaltlosigkeit (ahimsa). Wahrheit ist im Hinduismus nicht bloß das Richtige und Aufrichtige, also keine bloße moralische Norm – sondern eine Kraft, die im Kosmos und unter den Menschen wirkt. Mehr noch: Wahrheit ist für Gandhi der Inbegriff von Gott.

Durch die Läuterung von Verstand und Gefühl und Unterdrückung der Ichsucht können die Menschen an dieser Kraft teilhaben. Wer auf diese Weise „in der Wahrheit“ ist, ist auf die enorme Anstrengung vorbereitet, jederzeit und bei jeder Gelegenheit gewaltfrei zu handeln und zu reagieren. Mahatma Gandhi hoffte, so könne die Entwicklung der Menschengesellschaft zu ihrem vollen Potenzial vorangebracht werden. Andernfalls bleibt materieller Fortschritt ohne Nutzen und bietet Verlockung zu sozial ungerechtem Handeln.

Ein Leben „in der Wahrheit“ lehrt Menschen, wie sie sich in der Gesellschaft verhalten sollen. Dazu gehört für Gandhi zum Beispiel, dass kein Individuum mehr besitzen und verbrauchen soll, als es unbedingt braucht – dass es also anderen keine Ressourcen wegnehmen darf.


Neuer Mainstream

Vermutlich ist es besonders Swami Vivekananda und Mahatma Gandhi – aber auch anderen, die sich mit christlich-europäischem Gedankengut beschäftigten –zu verdanken, dass heutzutage sogar konservative hinduistische Kreise Hilfe zur konkreten materiellen Entwicklung leisten. Vivekananda gründete den Hindu-Mönchsorden Ramakrishna Mission, der in ganz Indien Schulen, Krankenhäuser, Bibliotheken, landwirtschaftliche Entwicklung und städtische Slum-Projekte betreibt. Die Einrichtungen leiten Mönche, die dem ­altindischen Askeseideal unter Vivekanandas modernen Vorzeichen verbunden sind.

Aber auch andere Hindu-Tempel und Klöster (maths), die häufig über ausgedehnte Ländereien und enormen Reichtum verfügen, haben begonnen, sich karitativ zu betätigen. Armenspeisungen, Aufnahme von Pilgern in Herbergen und Ähnliches sind schon immer üblich gewesen. Doch nun beginnen jahrhundertelang feudalistisch ausgerichtete Institutionen, sich um die Erziehung und den materiellen Fortschritt der Dorfbewohner zu bemühen.

Auch die Guru-Persönlichkeiten unserer Zeit folgen diesem Beispiel. Sai Baba etwa, den auch viele Menschen im Westen verehren, hat ganze Landstriche des Bundesstaats Andhra Pradesh urbar machen und nach neuesten Methoden mit Wasser versorgen lassen. Überall entstehen Schulen und Colleges in seinem Namen, die armen Schülern und Studenten offenstehen.

Heute kann sich kaum eine indische Organisation, ob sie nun ausdrücklich im Namen des Hinduismus entstanden ist oder nichtreligiöse Absichten verfolgt, diesem neuen Wind der Mitverantwortung mehr verschließen. Zumindest Lippenbekenntnisse zugunsten der Entwicklung der armen Schichten sind inzwischen Selbstverständlichkeit geworden.

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