Partizipation

Zu Vertretern des Wandels werden

Trotz der Euphorie über den Arabischen Frühling haben junge Palästinenser wenig Interesse an Parteipolitik und wenig gesellschaftlichen Einfluss. Für Mädchen und junge Frauen ist die Situation besonders schwierig.
Strand-Turner  in Gaza. landov/picture-alliance Strand-Turner in Gaza.

In den Palästinensischen sind 60 Prozent der Bevölkerung unter 18 Jahre alt. Zum Vergleich: In Deutschland liegt der Anteil der unter 18-Jährigen bei 16,5 Prozent. Junge Menschen haben das Potenzial, die Gesellschaft zu mobilisieren sowie innovativ und kreativ zu denken. Bestärkt man sie in ihrer Rolle als aktive Mitglieder der Zivilgesellschaft, können sie zu Fürsprechern nachhaltiger Entwicklung werden. Ohne Zweifel ist das Engagement junger Menschen am sozialen Leben und an gesellschaftlicher Entscheidungsfindung ein Zeichen für effektive politische Teilhabe und gute Regierungsführung.

Das könnte – und sollte – auch in Palästinensergebieten der Fall sein. Umfragen zeigen  jedoch alarmierende Trends.

Politische Teilhabe ist im Internationalen Pakt über Bürgerliche und Politische Rechte (ICCPR, Artikel 19 und 25) festgeschrieben – aber die Mehrheit (73 Prozent) der Jugendlichen in Palästinensergebieten gehört keinerlei politischen oder sozialen Organisation an. Als Gründe wurden in neuesten Umfragen „Enttäuschung und Vertrauensverlust“ angegeben. 42 Prozent der Befragten sagten, dass keine existierende Partei die palästinensische Bevölkerung wirklich repräsentiere. Gleichzeitig geht die Mitgliedschaft junger Menschen in örtlichen Vereinen und Organisationen zurück. Sozialverbände, zivile Institutionen und Gewerkschaften haben nur noch 20 Prozent junge Mitglieder.

Trotzdem sagt die Hälfte der Jugendlichen in Palästina, sie sei in der Lage, einen Wandel in ihrer Gesellschaft anzuregen. Wie kann dieser Anspruch in aktive Teilhabe, die sich im Alltag auswirkt, umgesetzt werden?


Über den Arabischen Frühling hinaus

Der Arabische Frühling in Tunesien und Ägypten bot eindrucksvolle Beispiele für Jugendaktionen ohne parteipolitische Dimension. Auch in Gaza demonstrierten Menschen für eine Vereinigung von Hamas und Fatah am 15. März 2011. Dies rief zwar die lokalen Sicherheitskräfte auf den Plan, aber die Beziehungen von Hamas und Fatah bleiben weiterhin ambivalent. Das Versprechen einer Einheitsregierung bleibt unerfüllt.  

Der Alltag der Jugendlichen findet in einem konflikt­reichen Umfeld statt. Er ist geprägt von israelischer Besatzung, Fragmentierung der palästinensischen Gesellschaft und angespannter innerpalästinensischer Politik. Da sie keine Chancen haben, etwas zu ändern, sind junge Palästinenser in Politik, Zivilgesellschaft und politischen Kontexten immer weniger aktiv. Armut, Arbeitslosigkeit und eingeschränkte Mobilität behindern politische Teilhabe. Die Forschung zeigt zudem, dass häufige Festnahmen von Jugendlichen eine abschreckende Wirkung haben.
 
Laut palästinensischem Statistikamt ist ein Viertel der jungen Palästinenser arm und ein Drittel arbeitslos. Die Daten zeigen, dass die Arbeitslosenquote für die jüngere Bevölkerung höher ist als für ältere Jahrgänge. Unter den Jüngsten erreicht sie bis zu 50 Prozent.

Jugendliche auf Jobsuche sehen sich mit Korruption und politischer Bevorzugung konfrontiert. Um Arbeit im öffentlichen oder privaten Sektor zu finden, braucht man „wasta“. Das ist der arabische Ausdruck für Beziehungen und Einfluss. Erfolg basiert nicht auf Leistung oder Bildung, sondern auf Kontakten und Patronage.


Partizipation der Jugend

Es ist ein allgemeines Missverständnis, dass politische Partizipation mit Wahlen beginnt und mit ihnen endet. Die palästinensische Jugend hat aber zum Beispiel kaum Bewusstsein für kommunalpolitische Zusammenhänge. Rolle und Verantwortung der Amtsträger ist den meisten unbekannt. Laut Erhebungen des Sharek Youth Forums sieht die Mehrheit (56 Prozent) Kommunen nur als Wasser- und Stromversorger sowie als Bereitsteller von Infrastruktur, aber nicht als Gemeinwesen, in denen wichtige, entwicklungsrelevante Entscheidungen fallen.  

Theoretisch haben junge Menschen das Recht, auf allen Ebenen am politischen Geschehen teilzunehmen. Praktisch ist dies in einer traditionellen und auf Erwachsene ausgerichteten Gesellschaft wie der palästinensischen schwierig. Jüngere haben den Älteren zuzuhören und zu gehorchen. Nur selten dürfen sie sich äußern und ihre Position vertreten.

Die Jugend ist marginalisiert – wegen patriarchalischer Strukturen, der Bedeutung von Sippen im Wählerregister sowie ihres fehlenden Einflusses und geringen Wohlstands. 57 Prozent der Gemeinderäte haben keine jungen Leute in Entscheidungspositionen. Das Sharek Youth Forum fand heraus, dass 44 Prozent der Jugendlichen sich einen Gemeinderatsvorsitzenden in einem Alter unter 35 Jahren wünschen.

Geschlecht ist eine wichtige Dimension der Jugendprobleme. Für Jungen und Mädchen gelten unterschiedliche gesellschaftliche Regeln. Die Hauptaufgabe der Frauen liegt in Kindererziehung und Hausarbeit, während Männer Geld verdienen und Entscheidungen treffen sollen. Diese Rollenbilder spiegeln sich im Verhalten der Jugendlichen wider.

Die sozialen Normen beeinträchtigen Ausbildungs- und Berufschancen junger Frauen sowie ihre Freizeitgestaltung. Mädchen, die gezwungen werden, früh zu heiraten, fallen völlig aus dem Arbeitsmarkt heraus. Sie bekommen weder eine Ausbildung noch eine Anstellung. Sie haben noch weniger politische Teilhabe als gleichaltrige Jungen.

Einige lokale Vereine betreiben Jugendzentren und -klubs. Sie sind aber in hohem Ausmaß von internationalen Geldgebern und Finanzierung abhängig. Wenn sie kein Geld für ihre Vorhaben bekommen, stellen sie die Arbeit ein. Instandhaltungskosten und andere laufende Ausgaben belasten derweil die jeweilige Kommunalverwaltung. Sportvereine sind die wichtigsten, unabhängigen Institutionen für Jugendliche. Doch oft bieten sie nur Fußball für Jungen und junge Männer an. Es gibt keine separaten Umkleidekabinen oder gar Trainingsplätze für Mädchen. Wieder einmal haben Jungen mehr Möglichkeiten.
 
Die Abhängigkeit von internationaler Finanzierung ist in allen Bereichen der palästinensischen Gesellschaft evident. Die Regierung hängt von solchen Geldern ab – aber oft reichen die Mittel nicht, um all ihren Aufgaben gerecht zu werden. Bis zu einem bestimmten Ausmaß springen zivilgesellschaftliche Organisationen ein, um grundlegende Dienstleistungen zu gewährleisten. Manche bezahlen dabei Freiwillige, weil kaum jemand bereit ist, unentgeltlich zu arbeiten.


Fazit

Alles in allem zeigen Jugendliche kein Interesse daran, sich in der Gesellschaft zu engagieren. Sie sehen schlicht keinen Sinn darin – zumal im schlimmsten Fall auch noch Festnahme und Gängelung drohen.

Die Pläne der Regierung, mit denen sie diesen Herausforderungen begegnen will, bleiben vage. Der Nationale Entwicklungsplan (2011–2013) sah eine größere Rolle von Frauen und Jugendlichen in politischer Willensbildung vor. Das Strategiepapier zu Public Participation in Local Government Units erklärte Jugendliche zu einer lokalen Interessengruppe. Aber nur neun Prozent der Jugendlichen haben je an einer der öffentlichen kommunalen Planungsversammlungen teilgenommen.

Zieht man die limitierten finanziellen Möglichkeiten der Dörfer und Gemeinden in Betracht, liegt der Schlüssel darin, Partnerschaften zwischen den Generationen zu schaffen. Junge Menschen müssen ihr Leben in die eigenen Hände nehmen und nicht bloße Beobachter des öffentlichen Lebens bleiben. Werden nachhaltige Strukturen auf lokaler Ebene etabliert, können diese den Jugendlichen Raum geben, ihre Bedürfnisse zu äußern und Strategien zu entwickeln, um ihr Leben zu verbessern (siehe  Box).

 

Alice Priori ist Entwicklungsberaterin und für die Youth Create Change-Interventionen verantwortlich, die zum Local Governance and Civil Society Development Program (LGP) in Palästina gehören. Das LGP wird von der GIZ im Auftrag des BMZ durchgeführt.
alice.priori@giz.de

Ulrich Nitschke ist der Programmdirektor des LGP. Die Autoren formulieren in diesem Artikel ihre persönliche Meinung und nicht deutsche Regierungspositionen.
ulrich.nitschke@giz.de

Governance

Um die UN-Ziele für nachhaltige Entwicklung zu erreichen, ist gute Regierungsführung nötig – von der lokalen bis zur globalen Ebene.