Geflüchtete Kinder

Kaum Bildungsmöglichkeiten für Geflüchtete im Libanon

Geflüchtete syrische Kinder und Jugendliche sind nunmehr seit über einem Jahrzehnt im Libanon faktisch vom Bildungssystem abgeschnitten. Die Kapazitäten staatlicher Schulen reichen bei Weitem nicht aus, und auch die Angebote zivilgesellschaftlicher Organisationen decken den Bedarf nur unzulänglich ab.
Eine behelfsmäßige Schule für syrische Flüchtlinge im Bekaa-Tal, Ost­libanon picture-alliance/AP Images/Hussein Malla Eine behelfsmäßige Schule für syrische Flüchtlinge im Bekaa-Tal, Ost­libanon

Omar Khodr ist vor zehn Jahren mit seiner Familie aus Syrien in den Libanon geflohen. Er lebt in Bar Elias, einer Kleinstadt in der Bekaa-Ebene, im Osten des Landes. In dieser Region haben mehr als 300 000 Syrerinnen und Syrer Zuflucht gefunden. An Khodrs Kindern zeigt sich die desaströse Bildungssituation syrischer Kinder und Jugendlicher im Libanon. Keines seiner sechs Kinder im Alter von sieben bis 20 Jahren hat jemals eine reguläre Schule besucht.

Sie nahmen stattdessen einige informelle Bildungsangebote wahr, die von zivilgesellschaftlichen Organisationen oftmals in Zeltschulen für verschiedene Altersgruppen angeboten werden. Die meisten dieser Angebote sind vom libanesischen Bildungsministerium nicht anerkannt. Das hat zur Folge, dass die Schülerinnen und Schüler keine gültigen Zertifikate oder Zeugnisse erhalten, mit denen sie für die Prüfung zur mittleren Reife oder für das Abitur zugelassen werden. Auch können sie sich so nicht für weiterführende Schulen qualifizieren.

Es mangelt an Plätzen

Für Privatschulen fehlt Omar Khodr, dessen Namen wir aus Gründen der Anonymität geändert haben, das Geld. Immer wieder hat der Familienvater versucht, seine Kinder in staatlichen libanesischen Schulen unterzubringen, die Nachmittagsunterricht für junge syrische Geflüchtete anbieten. Stets wurde er mit der Begründung abgewiesen, es seien keine Plätze mehr frei. Khodr zweifelt nicht an dieser Argumentation, denn die Schulen in der Kleinstadt Bar Elias sind nicht auf Tausende von Neuankömmlingen ausgerichtet. Libanons staatliche Schulen verlangen zudem offizielle Dokumente, die er als Geflüchteter außerhalb Syriens nicht beschaffen kann.

Während des pandemiebedingten Lockdowns hätten die Lehrenden der informellen Schulen versucht, über den Messengerdienst WhatsApp den Unterricht weiterzuführen, erzählt Khodr. Effektiv sei das nicht gewesen. Laptops und leistungsstarkes Internet können sich viele syrische Geflüchtete nicht leisten.

Bildung für syrische Kinder und Jugendliche ist eine der größten Herausforderungen, mit der die libanesische Regierung und die internationale Gemeinschaft konfrontiert sind. Mehr als zehn Jahre nach Beginn des syrischen Bürgerkrieges und der Flucht hunderttausender Syrerinnen und Syrer in das Nachbarland ist das Bildungsniveau der jungen Generation verheerend niedrig, und ihre Zukunftsaussichten sind entsprechend düster.

Programm für Schulbildung

In den ersten Jahren nach Ausbruch des Bürgerkrieges bezahlten zivilgesellschaftliche Organisationen die Anmeldegebühren für syrische Schülerinnen und Schüler an staatlichen libanesischen Schulen. Bald überstieg die Zahl der syrischen Kinder jedoch die Kapazitäten dieser Schulen. Da­raufhin wurde 2014 das Programm R.A.C.E. (Reaching All Children with Education in Lebanon) ins Leben gerufen, das zum Ziel hatte, 500 000 syrischen Kindern im Libanon Schulbildung zu sichern. Das Programm, das von der internationalen Gemeinschaft finanziert wurde, sah Nachmittagsunterricht für syrische Kinder und Jugendliche an staatlichen Schulen nach libanesischem Curriculum vor. Die Anmeldegebühren bezahlten Geber über das UN-Kinderhilfswerk (UNICEF – UN Children’s Fund) an das libanesische Bildungsministerium. Finanziert wurden darüber hinaus Instandsetzungskosten für Schulen und Honorare für Lehrer.

Mittlerweile ist die Kritik am R.A.C.E.-Programm, das 2021 zu Ende ging, groß. Die libanesische NGO Legal Agenda etwa erklärt es für gescheitert und bezieht sich dabei auf verschiedene Quellen: So gibt das UN-Flüchtlingskommissariat UNHCR an, dass 2021 ein Drittel der syrischen Kinder zwischen sechs und 17 Jahren nicht zur Schule ging. Lediglich elf Prozent der 15- bis 24-Jährigen haben eine Ausbildung begonnen. Die Mittlere Reife erreichte 2019 laut dem Center for Lebanese Studies (CLS) sogar nur ein Prozent der Schülerinnen und Schüler. Mittlerweile, nach der Pandemie und inmitten der weltweiten Wirtschaftskrise, dürften all diese Zahlen weiter gesunken sein.

Angst um Sicherheit der Kinder

Khodr kennt die meisten der vielfältigen Gründe für diese geringen Quoten. Er sagt, dass viele Syrerinnen und Syrer keine ausreichenden Informationen über das für sie aufgesetzte Lernprogramm an libanesischen staatlichen Schulen haben. Ein weiteres Hindernis sei der Nachmittagsunterricht: Eltern schreckten davor zurück, ihre Kinder am Nachmittag in die Schule zu schicken, weil sie Angst um ihre Sicherheit auf dem Rückweg nach Sonnenuntergang hätten. Hinzu kommt laut Khodr, dass oft das Geld für den Transport fehlt. Auch würden Kinder zur Arbeit auf die Felder geschickt, damit sie ihre Familien unterstützen können.

Eine Umfrage, die das CLS mit syrischen Schülerinnen und Schülern an libanesischen Schulen durchgeführt hat, ergab darüber hinaus, dass die überwiegende Mehrheit der Befragten Schwierigkeiten mit den Sprachen Englisch und Französisch hat, in denen Naturwissenschaften unterrichtet werden. In der Umfrage spielten auch die Lebensumstände der Geflüchteten eine Rolle: Überfüllte Unterkünfte und finanzielle Notsituationen sind klare Lernhindernisse.

Zusammenarbeit zwischen Staat und Privatwirtschaft nötig

Maha Shuayb vom CLS plädiert für ein langfristiges und umfassendes integratives Programm, das die Syrerinnen und Syrer nicht an den Rand der Gesellschaft drängt, sondern ihre Rechte respektiert. Beim Lernen geht es laut der Wissenschaftlerin nämlich nicht nur darum, Analphabetismus zu bekämpfen, sondern längerfristig Partizipation am Arbeitsmarkt zu ermöglichen. Armutsbekämpfung gehöre dabei ebenso dazu wie die Erweiterung der Kapazitäten der staatlichen Schulen, sagt Shuayb. Um diesen Ansatz angesichts der Krise im Libanon umzusetzen, sei eine Allianz des staatlichen und privaten Bildungssektors mit der Zivilgesellschaft nötig.

Im Sommer 2022 stellte das libanesische Bildungsministerium das Nachfolgeprogramm von R.A.C.E vor, den Transition Resilience Education Fund (TREF). Inwiefern dies ein erster Schritt in die von Shuayb skizzierte Richtung ist, bleibt abzuwarten. Laut der Regierung soll TREF verstärkt auf Unterrichtsqualität achten und flexibler auf die Bedürfnisse der Schülerinnen und Schüler eingehen. Das Programm richtet sich an libanesische und nichtlibanesische Kinder und Jugendliche gleichermaßen und wird in Zusammenarbeit mit UNICEF umgesetzt, auch EU und KfW sind beteiligt.

Weiterführende Literatur

Norwegian Refugee Council, 2020: The Obstacle Course: Barriers to education for Syrian refugee children in Lebanon.:
https://www.nrc.no/globalassets/pdf/reports/the-obstacle-course-barriers-to-education/executive-summary---the-obstacle-course_barriers-to-education.pdf

Al-Issa, J., Ibrahim, H., Mourad, L., 2022: Deprived of school, suffer restrictions – Syrian children subject to “discriminatory” education in Lebanon.
https://english.enabbaladi.net/archives/2022/12/syrian-children-subject-to-discriminatory-education-in-lebanon/

Mona Naggar ist freie Journalistin in Beirut.
mona.naggar@googlemail.com

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