Unsere Sicht

Die Grundlagen von breitem Wohlstand

Hochentwickelte Industrieländer zeichnen sich durch breite Mittelschichten aus. Deren Angehörige sind wohlhabend genug, sich im Alltag kaum Sorgen um Morgen machen zu müssen, aber nicht reich genug, um ohne Erwerbsarbeit auskommen zu können. Dank vielfältiger Wahlmöglichkeiten (Bildung, Beruf, Wohnort) können sie ihr Leben individuell gestalten.
Steigende Kaufkraft: Menschen in der Elektronikabteilung eines Geschäfts in Accra im Jahr 2007. DEM Steigende Kaufkraft: Menschen in der Elektronikabteilung eines Geschäfts in Accra im Jahr 2007.

Mittelschichten sind tragende Säulen sozialer Sicherungssysteme, auf denen zugleich die Stabilität ihres eigenen Lebensstandards beruht. Gesetzliche Krankenversicherung und Rente sorgen dafür, dass pflegebedürftige Angehörige nicht ganze Familien in die Armut reißen. Staatliche Schulen und Hochschulen machen Bildung erschwinglich. Wichtig ist auch öffentliche Infrastruktur von  zuverlässiger Wasser- und Stromversorgung über Verkehrs- und Telekommunikationsnetze bis hin zu Kulturangeboten wie Stadtbüchereien. Sozialer Wohnungsbau half zudem bei der Sanierung von Elendsvierteln.

Ohne Wirtschaftswachstum wäre all das nicht möglich gewesen, aber breiter Wohlstand in Europa und Nordamerika beruht nicht nur auf hohen Expansionsraten der Vergangenheit. Mittelschichten sind entstanden und gewachsen, weil Politiker gesellschaftliche Konflikte entschärften. Ein frühes Vorbild war die Sozialpolitik Otto von Bismarcks Ende des 19. Jahrhunderts im Deutschen Kaiserreich. Langfristig verwandelten gesellschaftspolitische Reformen die deutsche Arbeiterbewegung vom Antagonisten des Staates zur Interessenvertretung innerhalb der Verfassungsordnung. Wer regulär beschäftig ist, gehört heute zur Mittelschicht. Das gilt ähnlich in anderen hochentwickelten Länder.

Weltweit ist die Zahl der Menschen, die über den morgigen Tag hinaus denken können, weil ihnen kein akuter Hunger droht, seit Jahrzehnten gestiegen. Vor 50 Jahren war grob ein Drittel der Weltbevölkerung in diesem Sinne arm, heute ist es etwa ein Zehntel. Derweil hat sich die Weltbevölkerung von rund 3 Milliarden auf fast 8 Milliarden mehr als verdoppelt.

Höhere Kaufkraft hat in vielen Ländern – und zwar besonders in Städten – Lebensgewohnheiten verändert. Folglich sprechen Experten vom Wachstum der Mittelschichten. Manche versprechen sich davon zwei Dinge:

  • Aufstrebende Mittelschichten sollen den eigenen Wohlstand mehren und dabei neue volkswirtschaftliche Chancen schaffen.
  • Sie sollen Mitsprache fordern und mithin Demokratisierung vorantreiben und Demokratien stabilisieren.

Theoretisch ist das plausibel, aber in der Praxis läuft es nicht automatisch so. Zwei Dinge werden gern übersehen:

  • Außer Kaufkraft erfordert der Lebensstil von Mittelschichten diverse Institutionen. Im informellen Sektor entsteht, selbst wenn die Bezahlung ein bisschen besser wird, kein breiter, abgesicherter Wohlstand.
  • Selbstloses Engagement für Demokratie kommt in Mittelschichten vor. Die Bereitschaft, sich in bestehenden Verhältnissen zu arrangieren, ist aber meist größer – zumal, wenn es der eigenen Familie gut geht.

Die globale Umweltkrise zeigt obendrein, dass sich das westliche Modell nicht weltweit kopieren lässt. Es fehlen Vorbilder für nachhaltige Konsumgewohnheiten, mit denen sich Armut global überwinden ließe. Der Handlungsbedarf in reichen Nationen ist entsprechend groß, wenn die UN-Ziele für nachhaltige Entwicklung (SDGs – Sustainable Develoment Goals) erreicht werden sollen.


Sabine Balk ist Redakteurin von E+Z Entwicklung und Zusammenarbeit /D+C Development and Cooperation.
euz.editor@dandc.eu

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