Olympische Spiele

Der Westen sollte sachlich bleiben

Am 8. August 2008 ist es soweit: Alle Welt schaut auf China. Denn dann treffen sich Sportler zu den olympischen Spielen in Peking. 30000 Journalisten und eine halbe Million Touristen werden erwartet. Ei­gent­lich ein Grund zur Freude – und eine Chance, sich der Welt zu präsentieren. Doch statt als Gastgeber der größten und erfolgreichsten Spiele in die Geschichte einzugehen, wird Olympia von den Unruhen in Tibet, der Erdbeben-Katastrophe und der Diskussion über die Menschenrechtslage überschattet. Die chinesische Führung steht in einer Art und Weise im Zentrum der Weltöffentlichkeit, wie sie es sich sicher nicht gewünscht – und auch häufig nicht verdient hat.


[ Von Nora Sausmikat ]

Der Protest der Tibeter hat in den Mittelpunkt gerückt, was schon bei der Vergabe der Olympischen Spiele im Juli 2001 Gegenstand der Kontroverse war: die Menschenrechtssituation in China. Zur Zeit des Zuschlags war Jiang Zemin Präsident, der WTO-Eintritt stand kurz bevor, man feierte pompös den 80. Jahrestag der Gründung der Kommunistischen Partei Chinas und versprach, von 2001 bis 2005 den Aufbau eines demokratischen politischen Systems in den Mittelpunkt zu stellen. Während das Internationale Olympische Komitee darauf hoffte, mit der Vergabe der Spiele nach Peking die Lage zu verbessern, und internationale Menschenrechtsorganisationen positive Entwicklungen vermerk­ten, ist die Debatte offenbar wieder am Nullpunkt angekommen.

Zu allem Überfluss überraschte das Erdbeben in Sichuan mit bisher etwa 70 000 Toten und fünf Millionen Obdachlosen die chinesische Regierung. Doch diese Katastrophe hat zahlreiche positive Nebeneffekte gehabt: Die Regierung konnte beweisen, wie schnell und effektiv sie in Krisen­situationen reagieren kann. Rund 50 000 Soldaten und medizinisches Fachpersonal wurden mobilisiert; innerhalb von zwei Wochen wurden in mehr als 60 Flügen Nahrungs- und Hilfsgüter in die Region gebracht und Verletzte ausgeflogen. Auch gegenüber Birma profilierte sich China: Journalisten hatten anders als bei den Tibet-Demonstrationen freien Zugang zum Gebiet. In der Medienöffentlichkeit herrschte Empathie statt Wut.


Ein politisches Erdbeben

Die Krise in Tibet und die Krise in Sichuan sind jedoch nicht vergleichbar. Ganz un­politisch war auch das Erdbeben in China nicht. Mehrere Hundert Eltern protestierten gegen die Baumängel an Schulen. Der Einsturz der Schulgebäude soll zum Tod von über 1000 Kindern geführt haben, während die Gebäude der Parteikader intakt geblieben sind. So wie die SARS-Krise 2003 grobe Mängel im Gesundheitswesen offenbarte, zeigte nun das Erdbeben, wie eklatant die Regierung Bildungseinrichtungen auf dem Land vernachlässigt hatte. Nun kann man nur hoffen, dass diese erneute Tragödie die Regierung nicht nur wie schon 2003 veranlasst, neue Förderprogramme aufzulegen, sondern die Implementierung auch überwacht. In erster Linie war das Beben aber eine humanitäre Katastrophe.

Die Tibetkrise berührt allerdings gleich zwei hochsensible Politikbereiche: Die Minderheitenpolitik Chinas und seine territoriale Einheit. Die in den 1980er Jahren begonnene Ausweitung der Autonomierechte fand nach den Ausschreitungen 1989, die der jetzige Staatspräsident in seiner damaligen Funktion als Parteisekretär der Provinz Tibet „erfolgreich“ niederschlagen ließ, ein jähes Ende. Dennoch haben die heutigen Proteste weniger mit Unabhängigkeitsbestrebungen zu tun, als mit der enttäuschten Hoffnung auf die Rückkehr des Dalai Lamas.

Dies war die Forderung der Mönche, die die friedlichen Proteste begannen. Die Rück­kehr ist jedoch an eine Einigung der tibetischen Exilregierung mit Peking geknüpft. In den späten 1990er Jahren wurden die Gespräche wieder aufgenommen. Hauptstreitpunkt sind dabei territoriale Fragen sowie die Forderung nach außenpolitischer Autonomie und einem unabhängigen Status der Bürger Tibets. Der Dalai Lama klagt die „echte Autonomie“ ein, die ihm Mao 1955 versprochen hatte. Es ist ein Machtspiel zwischen Politikern. Der Großteil der tibetischen Land­bevölkerung, die immer noch 85 Prozent ausmacht, interessiert sich wenig für diese „großen“ Fragen. Die jüngsten gewaltsamen Ausschreitungen gingen von der tibetischen Stadtbevölkerung aus. Im Laufe der letzten Jahre haben sich die Fronten verhärtet.

Die Diskriminierung der Tibeter auf dem Arbeitsmarkt, die steigende Arbeitslosigkeit, die Ausbeutung der Rohstoffe – 63 Prozent aller Rohstoffe befinden sich in Minderheitengebieten –, die Überfremdung durch massiven Zuzug von Han-Chinesen und die Umweltzerstörung bilden den Zündstoff, der das Pulverfass des politisierten Tibet leicht anfachen kann. Darüber hinaus gibt es in Tibet Probleme, die es in ganz China gibt: Gesetze wie die seit 2004 geltende Schulmittelfreiheit werden nicht umgesetzt, auch Gesetze der Familienplanung werden regional unterschiedlich ausgelegt. Darüber hinaus hat der 2006 eingesetzte Parteichef der autonomen Region, der durch paramilitärische Einsätze in Xinjiang bekannt wurde, durch seine „patriotischen Erziehungskampagnen“ alle bis dahin erreichten Fortschritte wieder zunichte gemacht. Die wachsende Gewaltbereitschaft unter nationalistisch-religiös motivierten Tibetern und die internationale Tibetbewegung sorgen dabei für eine Ausweitung des Konflikts auf alle tibetischen Siedlungsgebiete. Eine einvernehmliche Lösung zwischen der Exilregierung und den Machthabern in Peking scheint dadurch kaum noch möglich.


Deeskalation durch Integration

Eine Unabhängigkeit Tibets scheint jedoch unter den gegebenen Umständen vollkommen unrealistisch. Die Exilregierung ist dem eigenen Land weitgehend entfremdet, und innerhalb Tibets konnte sich keine politische Elite entfalten. Außerdem ist Tibet arm – sowohl beim Bruttoinlandsprodukt als auch beim Human Development Index liegt Tibet weit hinter allen chinesischen Provinzen. Völkerrechtlich gab es nie ein anerkanntes unabhängiges Tibet, auch der Dalai Lama fordert dies nicht. Chinesische Intellektuelle sprachen sich stattdessen im März dieses Jahres in einem offenen Brief an die chinesische Regierung für eine radikale Reform der Tibetpolitik aus.

Viele Forderungen stimmten dabei mit denen des Dalai Lamas überein – so zum Beispiel die Umsetzung der in der Verfassung garantierten Autonomierechte und die freie Religionsausübung. Andere erwägen schon länger ein föderalistisches Modell. Dieses stößt jedoch weiterhin auf große Ablehnung innerhalb der chinesischen Regierung. Zu schwierig ist die territoriale Eingrenzung des „autonomen Gebietes“ Tibet. In der Version der tibetischen Exilregierung würde es große Teile Sichuans, Gansus und Qinghais umfassen. Darüber hinaus schließt sich an die Tibetkrise auch die Frage nach dem politischen Status der muslimisch geprägten Region Xinjiang oder dem der Mongolei und die Taiwanfrage an (wobei Taiwans Regierung diesen Vergleich vehement zurückweist, da es sich nicht als „Provinz“ Chinas definiert). Nur die Neuformulierung der Autonomierechte, eine gezielte Förderung tibetischer Sozialeinrichtungen und die Integration des Dalai Lamas könnten zu einer Deeskalation führen. Diese müsste allerdings auch von der internationalen Gemeinschaft gewollt und un­terstützt werden.


Medien berichten unsachlich

Good news are bad news – dies trifft ganz besonders für die China-Berichterstattung zu. Eine sachliche und differenzierte Berichterstattung ist kaum noch möglich – nicht im Westen und nicht in China. Die einen hetzen gegen den Dalai Lama, die anderen produzieren ein Bild der brutalen Unterdrückung friedlicher Proteste. Mittlerweile gibt es wieder Gespräche der chinesischen Regierung mit dem Dalai Lama, und mittlerweile ist auch klargestellt, dass auf beiden Seiten Opfer zu beklagen sind.

Die einseitig aufgeblasenen Negativnachrichten – zum Beispiel die Kommentierung der Publikation alter Einreisegesetze im Vorfeld von Olympia als „neue Regeln und Verbote für den Olympia-Besuch“, die gefälschten Fotos von der BBC sowie die noch nachhallende Klage des „Weltkrieges um Wohlstand“ nehmen dem Westen die Glaubwürdigkeit. Die eigennützigen Interessen der Wirtschaft aus den Industrienationen und die Teilhabe der in China produzierenden multinationalen Konzerne an der massiven Ausbeutung der Energie- und Rohstoffressourcen bleiben unkommentiert. Chinas Verschwörungsszenarien gewinnen durch solche Prozesse Oberwasser.

Die Eskalation in Tibet ist in weiten Teilen der konfrontativen chinesischen Politik zuzuschreiben, die mit einer konsequenten Umsetzung der Autonomieversprechen hätte vermieden werden können. Tibet wird deshalb weiterhin, ähnlich wie Xinjiang, ein Unruheherd bleiben. Einen Anteil daran hat aber auch die alte Gewohnheit des Westens, Länder wie China vorzuführen, wenn es gerade den eigenen Interessen dient. Veränderungen bezüglich der Achtung von Menschenrechten, der Respektierung tibetischer Interessen oder der Einrichtung unabhängiger Gewerkschaften können nur erfolgen, wenn die Situation realistisch eingeschätzt und dargestellt wird. Positive Entwicklungen wie die Bemühungen politischer Reformen, zunehmende Partizipationsmöglichkeiten für die Bevölkerung, das Anwachsen des investigativen Journalismus und die Allianz von Umweltschützern aus der Gesellschaft und der Regierung müssen auch zur Kenntnis genommen werden. Stimmungsmache hilft keinem – im Gegenteil: Ein Frontalangriff würde jetzt nur wieder alte nationalistische Kräfte stärken. Eine auf Dialog angelegte Diplomatie sowie differenzierte und nicht nur polarisierende Berichterstattung sind also dringend vonnöten.

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