Gesellschaftspolitik

„Stigmatisierung spielt eine enorme Rolle“

In kaum einem Land erreichen Entwicklungsprogramme, obwohl sie Arme und Be­nach­teiligte unterstützen sollen, mehr als zehn Prozent derjenigen, die körperliche, psycho-soziale, intellektuelle oder sensorische Behinderungen haben. Als internationale Initiative setzt sich die Global Partnership for Disability and Development (GPDD) für Verbesserungen ein.


[ Interview mit Maria V. Reina, Global Partnership for Disability and Development ]

In Entwicklungsländern heißt es oft, die Zahl der Behinderten sei so gering, dass man sich dann um ihre speziellen Bedürfnisse kümmern könne, wenn die ganze Gesellschaft Wohlstand erreicht hat. Stimmt das?
Bevor wir Statistiken diskutieren, müssen wir erst klären, was Wohlstand ist. Geht es um Reichtum oder auch um soziale Gerechtigkeit? Ich würde allen Regierungen das breiter angelegte Wohlstandsverständnis nahe legen. Man erreicht keine prosperierende Gesellschaft, indem man die Inklusion einer Gruppe aufschiebt. Zudem muss klar sein: Menschen mit Behinderungen können und müssen zum Wohlstand beitragen. Wir, die behinderten Bürger, sind nicht nur Nutznießer von Reichtum, den andere schaffen. Es ist nicht so, dass dann etwas nach unten durchsickert, wenn ein Land nur reich genug wird. In Wirklichkeit beruht echter Wohlstand auf Partnerschaft, die möglichst alle einbezieht. Nun zu Ihrer Frage: Menschen mit Behinderung sind keine kleine Gruppe, sondern ein erheblicher Teil jeder Nation. Weltbank-Daten zeigen, dass 10 bis 12 Prozent der Menschen in Entwicklungsländern Behinderungen haben. Die UN gehen von zehn Prozent aus.

Wie beurteilen Sie das wirtschaftliche Potenzial von Menschen mit Behinderungen in Entwicklungsländern?
Die Arbeitslosenquoten sind sehr hoch, obwohl sie das nicht sein müssten. In Lateinamerika sind um die 75 Prozent der Betroffenen arbeitslos, im südlichen Afrika sogar um die 90 Prozent. Sicherlich brauchen manche Behinderte spezielle Einrichtungen am Arbeitsplatz, aber das gilt nicht für alle. Manches davon würde au­ßer­dem auch Menschen ohne Behinderung entgegenkommen – flexible Arbeitszeiten zum Beispiel. Unternehmen, die solche Dinge anbieten, steigern in der Regel ihre Produktivität. Ich kenne keine Studien, welche die Beschäftigungsfähigkeit von Personen mit Behinderungen in Entwicklungsländern messen. Aber es gibt viel versprechende Pilotprojekte, die berufliche Kompetenzen und Jobs vermitteln. Das zeigt, dass viel getan werden kann. Was selbstständige Berufstätigkeit angeht, ist der Fortschritt besser dokumentiert. Denn Stigmatisierung verhindert oft, dass Behinderte angestellt werden.

Inwiefern ist Stigmatisierung die eigentliche Ursache von Ausgrenzung?
Stigmatisierung spielt eine enorme Rolle, man kann das gar nicht überschätzen. In der Tat umfasst Behinderung sowohl die funktionelle Einschränkung der Person als auch physische und soziale Hindernisse – inklusive mentaler Barrieren. Vorurteile, etwa dass Behinderung völlige Hilfsbedürftigkeit bedeute, schränken die Teilnahme am gesell­schaft­li­chen Leben, am Arbeitsmarkt, an höherer Bildung und so weiter ein.

Wie wirken sich Behinderungen wirtschaftlich aus?
Es ist wichtig, neben den direkten Kosten der Behinderung – etwa für Rehabilitation – auch die indirekten Kosten und verpassten Chancen zu sehen. Behinderung begrenzt normalerweise das Einkommen, und zwar nicht nur der betroffenen Personen selbst, sondern auch derjenigen, die sie pflegen; und das sind meist Angehörige. Menschen mit Behinderungen haben seltener Arbeit als andere, und wenn sie Jobs finden, werden sie schlechter bezahlt. Daten aus Tansania zeigen zum Beispiel, dass der mittlere Verbrauch der privaten Haus­halte mit einem behinderten Angehörigen nicht einmal 60 Prozent des nationalen Durchschnitts beträgt.

Wo es keine staatlichen Sicherungssysteme gibt, sind Behinderte auf ihre Familien und auf karitative Organisationen angewiesen. Wie kommen arme Familien zurecht?
Typischerweise sind Behinderte von Bildung, Beschäftigung, Gesundheitsvorsorge und anderen Dingen ausgeschlossen. Oft werden sie nicht als vollwertige Mitglieder der Gesellschaft anerkannt. Die Angehörigen stehen ebenfalls vor Hürden, was Beschäftigung, angemessenes Einkommen, soziale Akzeptanz und so weiter angeht. Eine aktuelle Studie von Inclusion International zeigt, dass die mangelnde Unterstützung für Familien mit behinderten Kindern oft zu Krankheit und Verdienstausfällen führt – sowie zu höheren Schulden.

Warum sind Frauen besonders betroffen?
Frauen mit Behinderungen leiden mehrfach und verschärft an den Diskriminierungen, denen Frauen und Mädchen generell ausgesetzt sind. Das reicht von Gewalt und Misshandlung über Ausbeutung bis zum fehlenden Zugang zu Bildungs- und Gesundheitswesen und so weiter. Frauen mit Behinderungen bleiben zudem in der nationalen wie internationalen Politik praktisch unsichtbar. Behinderte Frauen bekommen obendrein oft keine angemessene Gesundheitsversorgung.

Erläutern Sie das bitte.
Es wird wohl davon ausgegangen, dass Frauen mit Behinderungen nicht sexuell aktiv sind, also werden sie nicht auf sexuell übertragbare Krankheiten getestet. Oft werden keine vollständigen gynäkologischen Untersuchungen durchgeführt. Zwangssterilisation und Abtreibungen sind weitere diskriminierende Praktiken, die in einigen Teilen der Welt üblich sind. Es heißt, wegen unserer Behinderung seien wir nicht in der Lage, die Rolle der Ehefrau, Mutter und Hausfrau auszufüllen. Ein verbreitetes Vorurteil ist auch, dass wir biologisch unfähig seien, Mutter zu werden und Kinder aufzuziehen – folglich wird der Zugang zu Schwangerschafts- und Mütterberatung eingeschränkt. Viele von uns verlieren bei Scheidungen das Sorgerecht, oder sie müssen Kinder an soziale Einrichtungen abgeben, nur weil sie eine Behinderung haben. Außerdem sind Frauen, die für Behinderte sorgen, besonders von Armut bedroht, weil sie weniger Bildungs- und Beschäftigungschancen haben.

Was muss der Staat zur Unterstützung Behinderter tun?
Zunächst müssen alle diskriminierenden Vorschriften, Bräuche und Praktiken abgeschafft werden. Zweitens müssen Regierungen bei allen politischen Entscheidungen Behinderungen bedenken. Drittens müssen Regierungen und Behörden betroffenen Menschen Partizipation ermöglichen.

Welche Rolle spielt die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (CRPD)?
Ich sehe sie als Instrument für Entwicklung. Artikel 32 benennt, was Regierungen im Sinne der Inklusion tun sollen. Er sieht auch vor, dass die Entwicklungsprogramme alle Menschen mit Behinderungen einschließen müssen. Wenn ein Land die CRPD ratifiziert, muss sich die Konvention auch in seiner Politik niederschlagen.

Was können – und sollten – Geberinstitutionen tun?
Entwicklungspartner können einiges tun, zum Beispiel
– Modelle aufzeigen, indem sie Behinderte beschäftigen und ihre Niederlassungen barrierefrei zugänglich machen,
– Mittel für Behinderte bereitstellen,
– gemeinsam Wissen generieren, austauschen und
gute Praktiken verbreiten,
– ihr Personal richtig ausbilden und
– Druck auf Entwicklungsländer ausüben, Menschen mit Behinderungen und deren Organisationen nicht auszugrenzen.

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