Menschenrechte

Aktivisten schützen

Amnesty International (AI) ist weltweit bekannt als die größte Nichtregierungsorganisation, die sich für Menschenrechte einsetzt. Doch internationale Organisationen können nicht effektiv arbeiten, wenn sie nicht vor Ort gute Kontakte haben. Lokale Menschenrechtsgruppen sind deswegen wichtige Partner. Die Generalsekretärin von AI Deutschland, Selmin Çalışkan, erklärt Sheila Mysorekar die Beziehung zwischen AI und kleinen Menschenrechtsorganisationen vor Ort.
Christian Mukosa, Amnesty-Researcher für Zentralafrika, sammelt Zeugenaussagen in Bangui in der Zentralafrikanischen Republik während des Konflikts im Dezember 2014. Amnesty Christian Mukosa, Amnesty-Researcher für Zentralafrika, sammelt Zeugenaussagen in Bangui in der Zentralafrikanischen Republik während des Konflikts im Dezember 2014.

Wie verläuft die Zusammenarbeit zwischen Amnesty International und lokalen Menschenrechtsorganisationen in verschiedenen Ländern?
Amnesty International ist eine globale Menschenrechtsorganisation mit mehr als 7 Millionen Mitgliedern in über 150 Ländern der Welt. Wir verstehen uns als Teil einer weltweiten Bewegung für Menschenrechte und arbeiten eng mit Menschenrechtsgruppen auf der ganzen Welt zusammen. Oft ist Amnesty auf deren Informationen angewiesen, um die Situation vor Ort einschätzen und Empfehlungen geben zu können. Gleichzeitig vertreten wir ihre Anliegen auf internationaler Ebene und unterstützen sie moralisch und finanziell bei ihrer oft lebensgefährlichen Arbeit. Amnesty nutzt seine Bekanntheit und Expertise, um internationale Aufmerksamkeit für die Menschenrechtsarbeit vor Ort herzustellen.

Wie genau sieht diese Zusammenarbeit vor Ort aus?
Viele Berichte, die Amnesty zu Menschenrechtsverletzungen weltweit veröffentlicht, wären ohne die Zusammenarbeit mit lokalen Menschenrechtsgruppen nicht möglich. Sie können häufig viel schneller vor Ort sein als wir, kennen wichtige Ansprechpartner und vermitteln Kontakt zu Augenzeugen und Betroffenen. Oft sind Gespräche mit lokalen Menschenrechtsverteidigern nicht nur Voraussetzung unserer Berichte, sondern – neben den Aussagen von Überlebenden und anderen Beweisen – wichtige Grundlage. Auch bei Recherchen in Ländern, zu denen Amnesty keinen offiziellen Zugang hat oder aus Sicherheitsgründen nicht einreisen kann, sind wir auf unsere Kontakte vor Ort angewiesen. In Syrien beispielsweise arbeiten wir eng mit lokalen Aktivisten, humanitären Helfern und lokalen Menschenrechtsorganisationen zusammen, um schwere Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen durch alle Konfliktparteien zu dokumentieren. In einigen Situationen ist es auch sicherer, wenn Amnesty Menschenrechtsverletzungen anprangert anstelle einer lokalen Gruppe, die dadurch möglicherweise gefährdet wird. In manchen Fällen erfahren wir überhaupt erst durch Aktivisten vor Ort von Menschenrechtsverletzungen, zum Beispiel in Indien oder Kambodscha. Dort werden im Rahmen großer Industrieprojekte viele Menschen Opfer von rechtswidrigen Zwangsräumungen.

Falls es eine Gefährdung lokaler Aktivisten gibt, wie geht AI damit um?
Amnesty unterstützt Menschenrechtsverteidiger weltweit. Ist jemand aufgrund seiner Arbeit in Gefahr, machen wir Druck auf die verantwortlichen Behörden, damit sie ihn aus dem Gefängnis entlassen, Folter stoppen oder Personenschutz anordnen. Binnen weniger Stunden tritt ein Netzwerk von fast 80 000 Menschen in 85 Ländern in Aktion: Sie appellieren per Fax, e-Mail oder Luftpostbrief an die Behörden der Staaten, in denen Menschenrechte verletzt werden. Es ist dieser rasche und massive Protest, der immer wieder Menschenleben schützt. Vor Ort bezahlt Amnesty Sicherheitsausrüstungen für die Büros bedrohter Menschenrechtler oder übernimmt die Reisekosten, wenn sie ihr Land verlassen müssen. Amnesty trägt die Kosten für die Behandlung von Folteropfern und unterstützt Angehörige von politischen Gefangenen. Lassen Sie mich ein ganz konkretes Beispiel für eine erfolgreiche Eilaktion nennen: Im März 2015 wurden die fünf Frauenrechtlerinnen Wei Tingting, Wang Man, Li Tingting, Zheng Churan und Wu Rongrong in China festgenommen. Sie sind Mitglieder der Women‘s Rights Action Group, die sich für Frauenrechte einsetzt. Ihr „Verbrechen“: Sie hatten Veranstaltungen geplant, bei denen sie ein Ende der sexuellen Belästigung in öffentlichen Verkehrsmitteln fordern wollten, die in zahlreichen Städten Chinas an der Tagesordnung ist. Die fünf Frauen wurden wegen „Versammelns einer Menschenmenge zur Störung der öffentlichen Ordnung“ angeklagt. Amnesty startete mehrere Eilaktionen. Tausende Menschen weltweit forderten daraufhin in Briefen, e-Mails und sozialen Medien die Freilassung der Frauen. Im April 2015 wurden sie gegen Kaution aus der Haft entlassen.  

Können Sie sagen, wie sich die Dynamik zwischen lokaler Regierung und kleinen Menschenrechtsgruppen vor Ort verändert, wenn sich Amnesty einschaltet?
Die deutsche Amnesty-Sektion vergibt zum Beispiel alle zwei Jahre den Amnesty International Menschenrechtspreis. Mit der Verleihung des Preises würdigen wir Männer und Frauen, die sich unter besonders schwierigen Umständen für Menschenrechte einsetzen. Auszeichnungen wie diese stellen Menschenrechtsverteidiger ins Licht der Öffentlichkeit und unterstreichen die Bedeutung ihrer Arbeit. Dadurch werden sie weit über die Landesgrenzen hinaus bekannt. Diese Bekanntheit unterstützt ihre Arbeit und schützt sie vor Übergriffen durch Regierungen und Behörden. Die Preisträgerin 2014 war die Rechtsanwältin Alice Nkom, die Homosexuelle und Transgender verteidigt, die in Kamerun wegen „Unzucht“ vor Gericht stehen. 2003 gründete sie ADEFHO, die erste NGO, die sich dort für die Rechte von Lesben, Schwulen und Transgender (LGBTI) einsetzt. Durch die Verleihung des Preises wuchs das Ansehen von Alice Nkom in Kamerun, und sie konnte eine größere Öffentlichkeit für das Anliegen von ADEFHO gewinnen. Im Frühjahr habe ich Alice Nkom zusammen mit Kollegen und Mitgliedern von Amnesty besucht. Wir haben diese Reise gezielt dafür genutzt, vor Ort und gemeinsam mit lokalen Organisationen, die oftmals keinen Zugang zu Regierungsvertretern haben, für die Verbesserung der Rechte von LGBTI-Personen einzutreten.

Gibt es Ideen, die Zusammenarbeit zu verbessern?
Amnesty ist seit einigen Jahren dabei, seine Basis im globalen Süden und Osten zu stärken. Das bedeutet, dass die Regionalteams nicht mehr nur von der Zentrale in London aus arbeiten, sondern in mehreren Büros auf der ganzen Welt. Eines der Ziele ist es, noch besser im Austausch mit regionalen und lokalen Menschenrechtsaktivisten zu sein, schneller auf Menschenrechtsverletzungen zu reagieren und langjährige Beziehungen weiter auszubauen. Nicht zuletzt werden die Büros die Funktion haben, Menschen, die sich für ihre Rechte einsetzen, aus der Nähe dabei zu unterstützen, eine Menschenrechtskultur zu stärken oder auszubauen. Damit möchte AI auch einen Beitrag zur Konfliktprävention leisten. Denn die Achtung der Menschenrechte und eine starke Zivilgesellschaft sind die Basis für ein friedliches Zusammenleben. Konflikte und Gewalt werden durch schwere Menschenrechtsverletzungen geschürt und verschärft, insbesondere wenn die Täter ungestraft davon kommen. Dieser Zusammenhang scheint vielen Politikentscheidern nicht bewusst zu sein und taucht eher in moralischen Appellen denn in konkreten wirksamen Umsetzungsplänen auf. Aus unserer Sicht ist dies das größte Manko. Denn so werden Stabilität, Entwicklung und der Frieden ganzer Regionen verhindert, und aus Millionen von Menschen werden Flüchtlinge gemacht. Amnesty International versucht, durch eine starke globale Kampagnenarbeit und politische Anwaltschaft Druck auf Entscheider auszuüben, sodass Menschenrechtsverletzungen wahrgenommen, skandalisiert und beendet werden. Und natürlich setzen wir uns dafür ein, dass Personen, Institutionen und Firmen, die Menschenrechtsstandards verletzen, vor Gericht kommen und Betroffene von Menschenrechtsverletzungen rehabilitiert und entschädigt werden.

 

Selmin Çalışkan ist seit 2013 Generalsekretärin der deutschen Sektion von Amnesty International in Berlin.
presse@amnesty.de

 

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