Bürgerkrieg

Beschränkter Zugang

Rund 13 Millionen Menschen in Syrien oder 70 Prozent der Bevölkerung sind auf humanitäre Hilfe angewiesen. Doch der Zugang zu ihnen ist zum Teil stark eingeschränkt – im Durchschnitt wird nur etwa die Hälfte von ihnen erreicht. Hilfsorganisationen kommen zudem selbst unter Beschuss, oder ihre Einrichtungen werden angegriffen. Manche stellen deshalb ihre Arbeit ein.
Syrerinnen mit Nothilfe-Rationen in Humaymah al-Kabira in der Provinz Aleppo. Lystseva/TASS/picture-alliance/dpa Syrerinnen mit Nothilfe-Rationen in Humaymah al-Kabira in der Provinz Aleppo.

Der Konflikt in Syrien, der im Frühjahr 2011 begann, hat sich zu einem der brutalsten Kriege der letzten Jahrzehnte entwickelt. Lokale, regionale und internationale Kräfte sind daran beteiligt. Die UN haben 2014 aufgehört, die Toten zu zählen, weil sie keinen Zugang zu den umkämpften Gebieten erhalten und nicht mehr in der Lage sind, Quellen zu überprüfen. Schätzungen gehen von 400 000 bis 500 000 Todesopfern aus. Das Syrian Network for Human Rights, das penibel über Angriffe mit zivilen Opfern Buch führt, spricht von 217 764 zivilen Opfern bis Ende April 2018. Ungefähr eine Million Menschen wurden verwundet.

Nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR sind mehr als 5 Millionen Syrer als Flüchtlinge in den Nachbarländern registriert. Etwa 1 Million Syrer haben sich in Europa in Sicherheit gebracht, und ungefähr 6 Millionen sind Flüchtlinge im eigenen Land, davon mehr als die Hälfte Kinder und Jugendliche. Viele von ihnen leben in einer humanitären Notlage (siehe auch Beitrag, S. 6).

In vielen der zahlreichen Resolutionen, die der UN-Sicherheitsrat zu Syrien verfasst hat, geht es um den Schutz der Zivilbevölkerung und die Sicherung humanitärer Hilfe. Angeprangert wird der Bruch des internationalen Völkerrechts und der Menschenrechte. Zivilisten werden gezielt angegriffen – mit konventionellen Waffen und mit Giftgas. Sie werden belagert und ausgehungert. Zivile Strukturen wie Schulen, Krankenhäuser, Märkte, Flüchtlingslager, Gebetshäuser oder Lagerhäuser für Hilfsgüter sind ebenfalls Zielscheibe für Angriffe.

Auch lokale und internationale humanitäre Helfer kommen gezielt unter Beschuss. Seit Beginn des Konflikts bis Juni 2017 sind nach den Recherchen von Syria Deebly, einer Website über den Syrienkrieg, 320 Gesundheitseinrichtungen getroffen worden, vor allem in den Provinzen Aleppo, Hama und Idlib. Davon betroffen sind auch Fachkliniken wie Entbindungs- und Kinderstationen. Einige Hilfsorganisationen sehen sich gezwungen, ihre Arbeit einzustellen, weil sie die Sicherheit der Patienten und ihres Personals nicht garantieren können. Geahndet wurden diese Angriffe bisher nicht.

Krieg in Syrien heißt auch, dass ungefähr zwei Drittel der Bevölkerung keine funktionierende Strom- und Wasserversorgung haben. In manchen Gebieten fürchten die Menschen täglich um ihr Leben. Sie müssen ihre Häuser verlassen oder haben sie bereits verloren. In einigen Regionen gibt es nur eine rudimentäre oder gar keine Gesundheitsversorgung mehr. Viele Menschen haben ihre Arbeit verloren und leben in extremer Armut. Die Preise für die Dinge des täglichen Lebens – wie Grundnahrungsmittel, Hygieneartikel oder Gasflaschen – haben sich vervielfacht. Das Syrische Pfund hat stark an Wert verloren. Menschen haben nicht genug Essen und Trinkwasser. Eine normale Schulbildung ist für viele Kinder und Jugendliche nicht möglich. Ein Drittel der Schulen ist zerstört; in vielen anderen leben Flüchtlinge.

UN OCHA, das UN-Koordinierungsbüro für humanitäre Hilfe, gibt an, dass 70 Prozent der Bevölkerung auf humanitäre Hilfe angewiesen sind. Das sind etwa 13 Millionen Menschen, die eine Unterkunft, Lebensmittel, Trinkwasser und Gesundheitsversorgung benötigen. Sie können jedoch bei weitem nicht alle erreicht werden. Hilfskonvois und humanitäre Helfer haben keinen freien Zugang. Sie müssen mit der syrischen Regierung und mit den verschiedenen Milizen Genehmigungen aushandeln, die verweigert werden können.

Nur ein Bruchteil der beantragten UN-Hilfskonvois zu den belagerten und schwer erreichbaren Regionen werden genehmigt. Hinzu kommt, dass die syrischen Behörden genehmigte Hilfskonvois routinemäßig kontrollieren und nachträglich dringend benötigte Medikamente entfernen, wie im März dieses Jahres in Duma geschehen. Ein Sprecher der Weltgesundheitsorganisation WHO meldete, dass syrische Sicherheitskräfte lebenswichtige Medikamente entwendet hätten.

Ein Beispiel für die Ohnmacht der Hilfsorganisationen ist die Belagerung von Ost-Ghuta nordöstlich von Damaskus. Fünf Jahre lang wurden rund 400 000 Menschen von Truppen der syrischen Regierung und ihren Verbündeten umzingelt. Islamistische Milizen, die sich in der Region festgesetzt hatten, sollten zur Aufgabe gezwungen werden. Die Belagerer verhinderten den freien Zugang von Waren des täglichen Bedarfs ebenso wie von lebenserhaltenden medizinischen Gütern.

Die Bewohner von Ost-Ghuta litten Hunger. Kranken und Verwundeten wurde nur selten erlaubt, das Gebiet zu verlassen. Der Vorsitzende der Hilfsorganisation SAMS (Syrian American Medical Society), Ahmad Tarakji, beschrieb Anfang dieses Jahres die Schwierigkeiten, mit denen seine medizinischen Mitarbeiter zu kämpfen hatten. Die Einrichtungen, die sie betrieben, wurden angegriffen. Es gab kein ausreichendes medizinisches Material. Die Erlaubnis, Notfälle zu evakuieren, wurde nur sporadisch erteilt. SAMS beantragte 2017 über UN-Organisationen die Evakuierung von mehr als 600 Notfällen, die in Ost-Ghuta nicht behandelt werden konnten. Nach sechsmonatiger Bearbeitung dieser Anträge erlaubten die syrischen Behörden 29 Kranken, Ost-Ghuta zu verlassen, um in Krankenhäusern der Hauptstadt behandelt zu werden. In der Zwischenzeit waren 19 Patienten, die auf der Liste standen, gestorben.

Auch die Organisation Ärzte ohne Grenzen, die bis März 2018 in Ost-Ghuta gearbeitet hat, berichtet von unüberwindbaren Schwierigkeiten. Lorena Bilbao, Programmkoordinatorin von Ärzte ohne Grenzen für Syrien, bemerkte nach Beginn der militärischen Offensive der syrischen Armee im Februar, dass Kliniken und Gesundheitszentren, die sie unterstützten, angegriffen wurden und keinen Zugang zu notwendigen medizinischen Geräten und anderen Gütern hatten. Nach und nach mussten diese Zentren ihren Dienst einstellen.

Sehr kritisch ist die Situation der Binnenflüchtlinge, die von internationalen Organisationen ebenfalls schwer zu erreichen sind und sich in akuter Not befinden. Ihnen fehlen Lebensmittel und Trinkwasser. Sie leben in Lagern, Übergangszentren, informellen Siedlungen oder öffentlichen Gebäuden in verschiedenen Gebieten in Syrien. In Teilen Ostsyriens wie etwa Rakka und Umgebung, die nicht mehr unter Kontrolle der Terrororganisation ISIS sind, behindern Minen und Sprengfallen den Zugang.

Anhaltende Kampfhandlungen, fehlender Zugang zu Menschen in Not und bürokratische Hürden gehören zu den größten Schwierigkeiten, mit denen lokale und internationale Hilfsorganisationen in Syrien zu kämpfen haben. Im Monatsdurchschnitt werden nur ungefähr die Hälfte der Menschen erreicht, die Nothilfe benötigen. Immer wieder formulieren Hilfsorganisationen Appelle und verabschiedet der UN-Sicherheitsrat Resolutionen, die alle Kriegsparteien, allen voran die syrische Regierung, auffordern, freien Zugang zu gewährleisten. Dazu gehört auch Zugang über die Nachbarländer Irak, Türkei und Jordanien.

Der Krieg in Syrien geht ins achte Jahr. Eine Lösung ist nicht in Sicht. Die große Sorge aller Akteure in der humanitären Hilfe ist die weitere ausreichende Finanzierung der Hilfsprogramme. Auf der Syrien-Geberkonferenz in Brüssel Ende April 2018 haben die teilnehmenden Länder ungefähr die Hälfte der von den UN geforderten Gelder für humanitäre Hilfe zugesagt: 3,7 Milliarden von 6,5 Milliarden Euro. Wie viel Geld tatsächlich eintreffen wird, ist unbekannt. 2017 ist von der zugesagten Hilfe nur ungefähr die Hälfte angekommen. Für die Menschen in Syrien und für die syrischen Flüchtlinge in den Nachbarländern bedeutet das, dass sie weniger Essensrationen bekommen und weniger Kinder in die Schule gehen können.


Mona Naggar ist Journalistin und Trainerin. Sie lebt in Beirut, Libanon.
mona.naggar@googlemail.com


Links

UN OCHA: Syrian humanitarian response plan.
https://fts.unocha.org/appeals/629/summary

Syrian American Medical Society (SAMS):
https://www.sams-usa.net/

Syrian Network for Human Rights:
http://sn4hr.org/blog/2018/05/01/52129/

 

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