Literatur
Woran lassen sich Hautfarben erkennen?
Twyla und Roberta lernen einander im Alter von acht Jahren im St. Bonny’s Kinderheim in den USA kennen. Sie sind keine Waisen wie die anderen Kinder, ihre schulischen Leistungen lassen zu wünschen übrig, und ihre Mütter, beide alleinerziehend, sind mit ihren Töchtern völlig überfordert – die eine, weil sie krank ist, die andere, weil sie die Nächte durchtanzt. So landen beide Mädchen für vier Monate in einem Heim, in dem sie sich ein Zimmer teilen müssen. Die eine ist schwarz, die andere weiß.
„Nebeneinander sahen wir aus wie Salz und Pfeffer“, sagt Twyla. Anfangs begegnen sich die beiden Mädchen mit Skepsis und Vorbehalt, geprägt durch ihr jeweiliges Elternhaus. „Meine Mutter hatte ja recht. Von Zeit zu Zeit hörte sie nämlich gerade so lange mit dem Tanzen auf, um mir etwas Wichtiges zu erklären, und unter anderem hat sie mir erklärt, dass die sich nie die Haare waschen und komisch riechen. Wie Roberta.“ Doch dann werden sie Vertraute, denn sie sind die einzigen „abservierten“ Kinder im Heim, ohne „liebe verstorbene Eltern im Himmel“. Sie stehen somit ziemlich weit unten in der Waisenhaushierarchie. Unter ihnen ist nur noch das stumme Hausmädchen Maggie, das von allen gequält und verspottet wird und deren Geschichte sich wie ein roter Faden durch die ganze Erzählung zieht.
Nach 28 Tagen bekommen die beiden Mädchen Besuch von ihren Müttern – Robertas Mutter mit einem riesigen Kreuz um den Hals und einer Bibel unter dem Arm, Twylas Mutter in einer engen grünen Hose und einer löchrigen Felljacke. Twylas Mutter streckt Robertas Mutter die Hand entgegen, doch diese packt ihre Tochter und eilt hastig davon. Hat jetzt die weiße Frau der schwarzen den Gruß verweigert, oder hat die bigotte schwarze Frau der weißen Frohnatur die Hand verwehrt?
Acht Jahre später treffen sich die beiden wieder. Sie wohnen noch immer in der gleichen Stadt. Twyla arbeitet inzwischen in einem Diner hinter dem Tresen, hat Uniform und dicke, blickdichte Strümpfe an. Roberta ist aufgedonnert, in engen Shorts und in Begleitung zweier bärtiger Jungs. Sie sind auf dem Weg zu Jimi Hendrix. Später begegnen sie sich noch einmal in einer Shoppingmall. Roberta hat inzwischen sehr reich geheiratet, Twyla ist mit einem Feuerwehrmann verheiratet und hat einen Sohn. Wieder Jahre später treffen sie bei einer Demonstration aufeinander. Weiße und schwarze Kinder sollen gemeinsam zur Schule gehen. Twyla ist dafür, Roberta dagegen.
Toni Morrison, die 1993 als erste schwarze Autorin den Literaturnobelpreis erhielt, spielt in ihrer Erzählung immer wieder mit rassistisch geprägten Vorurteilen, mit Codes, die auf die jeweilige Identität der Protagonistinnen hinweisen könnten. Man beginnt zu rätseln und versucht, anhand äußerlicher Indizien, verräterischer Sprache oder gesellschaftlicher Stellung der Hautfarbe der Figuren auf die Spur zu kommen. Doch es gibt keine verlässlichen Hinweise. Das, was plausibel erscheint, könnte auch ganz anders sein. Wer arm und unterdrückt ist, muss nicht notwendigerweise schwarz sein. Wer reich und gesellschaftlich angesehen ist, ist nicht automatisch weiß. Bis zum Schluss bleibt der*die Lesende im Unklaren, wer von beiden die Schwarze und wer die Weiße ist.
Geschrieben hat Morrison diese – ihre einzige – Erzählung bereits 1983. Zu diesem Zeitpunkt war die Rassentrennung in den USA zwar per Gesetz seit 20 Jahren aufgehoben, die Diskriminierung der schwarzen Bevölkerung aber noch tief in der Gesellschaft verankert. Abwertung, Stigmatisierung und Rassismus zeigten sich nach wie vor in der Sprache.
Morrisons Erzählung wurde vor ein paar Jahren wiederentdeckt und erschien 2022 erstmals als Buch, mit einem Nachwort der britischen Schriftstellerin Zadie Smith, die unter anderem für ihre Beschäftigung mit Rasse, Religion und kultureller Identität bekannt ist. An Aktualität hat die Erzählung bis heute nichts verloren. Noch immer bestimmt ihre Hautfarbe mit, wie Menschen gesehen werden.
Buch
Morrison, T., 2023: Rezitativ. Hamburg, Rowohlt.
Dagmar Wolf ist Redaktionsassistentin bei E+Z/D+C.
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