Austeritätspolitik

Schrumpfende Staaten – und Ökonomien

Viele Wirtschaftswissenschaftler in Lateinamerika, Afrika und Asien wundern sich über die jüngste Entwicklung Europas. Die Eurozone versucht, die Wirtschaftskrise mit weniger Staatsausgaben und Marktliberalisierung zu überwinden. In vielen Ländern hat sich die Lage aber dadurch zugespitzt. Volkswirte aus Schwellen- und Entwicklungsländern fragen sich, warum die EU sich einer Strategie unterwirft, die bei den Strukturanpassungen Ende des vergangenen Jahrhunderts keinen Erfolg brachte.
Job centre in  Cascais: for the age group 15 to 24, the unemployment rate is 35 % in Portugal. Rafael Merchante/Reuters Job centre in Cascais: for the age group 15 to 24, the unemployment rate is 35 % in Portugal.

Der Triumph der linken Syriza im Januar in Griechenland hat die ökonomische Debatte in Westeuropa noch spannender gemacht. Die Debatte begann, als die amerikanische Finanzkrise von 2007 mit der Pleite der Bank Lehmann Brothers Ende 2008 zu einem internationalen Problem wurde.

Die Krise sprang schnell von den USA auf Europa über. Bis Ende 2009 war die Wirtschaftsleistung der EU um 4,5 Prozent geschrumpft, wobei Irland, Italien und Deutschland besonders hohe Einbußen erlitten. Irland war wegen der Schwächen seines Banksystems am härtesten dran und benötigte bald einen Rettungsschirm. Das galt dann auch für Griechenland, später für Portugal und schließlich für Zypern.

Andere Länder, wie Spanien und Italien, gerieten ebenfalls in Schwierigkeiten. Aber sie schafften es, ohne formales Rettungsprogramm zurechtzukommen. Spanien brauchte allerdings andere Arten der Unterstützung.

In der Krise wurde die Austeritätspolitik wiederbelebt. Ihre Grundidee ist, dass exzessive Staatsschulden die Ursache der Probleme sind. International hielten viele Wirtschaftswissenschaftler diesen Ansatz seit der „keynesianischen Revolution“ der 1930er Jahre für überholt (siehe Kasten unten). Dennoch setzte Europa auf Sparkurs.

Die Rettungsprogramme wurden von einer Troika organisiert, einer adhoc zusammengesetzten Gruppe von Vertretern der Europäischen Kommission, der Europäischen Zentralbank (EZB) und dem Internationalen Währungsfonds (IWF). Länder, die Finanzhilfe brauchten, erhielten nur unter bestimmten Kondi­tionen Kredite. Sie mussten sich verpflichten, die Staatseinnahmen zu steigern und die Ausgaben zu drosseln, um Haushaltsdefizite zu reduzieren. Sie mussten Staatsbetriebe privatisieren, das soziale Netz beschneiden und den Arbeitsmarkt liberalisieren.

Dieser Politik-Mix kommt Ökonomen in Schwellen- und Entwicklungsländern nur allzu bekannt vor. Er ähnelt den Strukturanpassungsprogrammen, die die Weltbank und der IWF in den 1980ern und 1990ern durchsetzen. In vielen Fällen waren die betroffenen Länder schließlich überschuldet, aber nicht wettbewerbsfähiger. Am Ende wurden Umstrukturierungen unvermeidlich.

Angesichts dieser Erfahrung überraschen die Ergebnisse der europäischen Sparpolitik nicht. Laut Eurostat ist nicht nur das Wachstum in periphären Ländern betroffen. Auch Deutschland und andere Volkswirtschaften, die nach allgemeiner Einschätzung gut durch die Krise gekommen sind, schwächeln.

Austerität war als bittere Pille gedacht, die schnell zu gesundem Wachstum führen sollte. In den von der Krise am stärksten gebeutelten Ländern führte dies zu mehr Arbeitslosigkeit, mehr Auswanderung, mehr Armut. Hinzu kamen eine Abnahme der sozialen Sicherheit, ein Rückgang der Geschäftstätigkeit und verstärkte politische Instabilität. Obwohl Haushaltsdefizite reduziert wurden, sind die Staatsschulden in allen betroffenen Ländern dramatisch angewachsen, denn wenn Volkswirtschaften schrumpfen, sinken auch die Steuereinahmen.


Portugal zum Beispiel

Der Blick auf einzelne Länder ist deprimierend. Portugal zum Beispiel schloss sein Anpassungsprogramm 2014 ab. Laut Eurostat sank die Zahl der Beschäftigten im Land in den Jahren 2009 bis 2013 um zehn Prozent auf nicht ganz 4,5 Millionen. Anfang 2015 berichtete Portugals Statistikamt NIS zwar, die Arbeitslosenquote sei marginal auf 13,4 Prozent ­gesunken, für die Altersgruppe 15 bis 24 lag sie aber bei 35 Prozent.

Arbeitslosenzahlen können zudem irreführen. Sie erfassen alle die nicht, die die Jobsuche aufgegeben haben. Laut NIS war der Anteil der Erwerbstätigen an Portugals Bevölkerung 2013 wieder auf dem Stand von 2003 – deutlich unter dem von 2009. Der gesamte Fortschritt des ersten Jahrzehnts dieses Jahrhunderts ist dahin.

Es ist zu bezweifeln, dass diese Wohlstandseinbußen der nötige Preis für eine bessere Zukunft sind. Der Ausblick ist weiterhin düster. Eurostat-Daten für 2014 gibt es noch nicht, aber der IWF erwartet bis 2019 nur Wachstumsraten um 1,5 Prozent. Darüber hinaus macht er keine Prognosen. Wichtiger noch ist, dass nach dem Kollaps zwischen 2011 und 2013 die Gesamt­investitionen sich zwar nach 2014 etwas erhöht haben sollen, aber die prognostizierten Zahlen nicht einmal annähernd ausreichend sind, um die Lücken zu schließen, die Krise und Sparpolitik aufgerissen haben. Vielen Daten zufolge ist Portugal nicht auf dem Weg zurück zu dem Wohlstand, den es vor der Krise kannte.


Kontinentale Ausnahme

Warum also wurde diese Politik ergriffen? Und warum wird weiter darauf bestanden, obwohl Kosten-Nutzen-Analysen zeigen, dass sie nicht funktioniert? Ein wichtiger Grund ist, dass keynesianische Konzepte viele Ökonomen in Kontinentaleuropa, insbesondere in Deutschland, nicht überzeugen.

Unter anderem erkennen sie im Keynesianismus tendenziell die interventionistische Wirtschaftspolitik der Nazis wieder. Zudem bleiben Joseph Schumpeter und Friedrich August von Hayek, zwei bedeutende österreichische Vorkriegsökonomen, sehr einflussreich. Beide emigrierten in den Nazi-Jahren. Von Schumpeter stammt die Idee, dass Wettbewerb und Innovation den Fortschritt des Kapitalismus antreiben, Keynesianismus diese Dynamik aber störe. Hayeks Erbe ist die Ansicht, dass Staatsversagen grundsätzlich gefährlicher ist als Marktversagen.

Herbert Giersch war ein wichtiger deutscher Wirtschaftswissenschaftler nach dem Krieg. Ihm zufolge stört Keynesianismus die Marktanreize, die einerseits Wettbewerb, Innovation und Arbeitsproduktivität antreiben, und andererseits für Lohndisziplin sorgen. Öffentliche Ausgaben verleiten demnach Unternehmen zu dem Versuch, sich auf staatlichen Aufträgen auszuruhen, statt sich im Wettbewerb zu bewähren.

Zudem argumentieren deutsche Volkswirte, dass exzessive Staatsausgaben die Inflation antreiben und früher oder später höhere Steuern erfordern. Grundsätzlich sagen sie, nur Wettbewerbsdruck schaffe Wohlstand. Deshalb müsse jeder staatliche Eingriff in Märkte scheitern.

Der Schwachpunkt dieser Argumentation ist, dass Wettbewerb nicht immer zu Innovation und Produktivität führt. Keynesianer sagen, dass nicht investiert wird, wenn die Nachfrage nach Waren und Dienstleistungen zu gering ist. Falls Privatunternehmen ihr aktuelles Output nicht verkaufen können und erwarten, dass die Nachfrage schwach bleibt, haben sie keinen Grund, in Produktionskapazitäten zu investieren, denn ein Teil ihrer Anlagen liegt ohnehin brach. Keynes lehrte, dass Unternehmen nur investieren, wenn sie sich vom Verkauf ihrer Waren und Dienstleistungen Profit versprechen – und bei Marktflaute tun sie das nicht.

Austeritätsvertreter können nicht sagen, wer denn in der Krise zusätzliche Waren und Dienste kaufen soll. Ihre Politik läuft auf Neomerkantilismus hinaus: Export ist die einzige Option. Herrscht auf dem Binnenmarkt zu wenig Nachfrage, ist höhere Produktivität für Unternehmen nur erstrebenswert, wenn sie Ausfuhren steigern können.


Nullsummenspiel

Diese Strategie kann nicht für alle Volkswirtschaften gleichzeitig aufgehen. Es ist mathematisch klar, dass nicht alle Länder gleichzeitig ihre Nettoexporte steigern können. Damit das einigen gelingt, müssen andere mehr importieren.

Deutschland floriert seit Jahrzehnten dank Produktivitätssteigerung und beeindruckendem Erfolg im Welthandel. Für die Politiker eines Landes, das wie Deutschland einen Großteil seiner Wirtschaftsleistung exportiert, mag es so aussehen, als seien Ausfuhren der einzige Weg. Was für eine hochdynamische Nation mit rund 80 Millionen Einwohnern funktioniert, lässt sich aber nicht auf die gesamte EU mit 500 Millionen Menschen übertragen. Die EU ist schlicht zu groß, um mit Exporten aus der Krise zu kommen.

Die Erfahrung der vergangenen fünf, sechs Jahre spricht nicht für Austerität, sondern dafür, die Nachfrage wiederzubeleben. Einige Länder, besonders Deutschland, konnten die Krise mit Nettoexportsteigerung abmildern. Aber selbst sie werden kurzatmig, wenn – wie aktuell der Fall – die Weltwirtschaft Tempo verliert. Und wem wollen sie ihre Produkte verkaufen, wenn alle anderen Länder so wettbewerbsfähig werden wie sie selbst?

Heute lahmt die Wirtschaft in ganz Europa. Selbst Deutschland sorgt sich über zu geringe Investitionen. Länder wie Frankreich und Italien haben große Probleme. Ehemals erfolgreichen Volkswirtschaften, wie den Niederlanden und Finnland, drohen Abwärtsspiralen. Die EZB warnt vor Deflation, und diese halten die meisten Ökonomen für gefährlicher als Inflation, die die europäischen Entscheidungsträger fürchten. Fallende Preise können nämlich eine Depression verstärken, wenn die Hoffnung auf profitablen Produktabsatz sinkt.


Kein globales Vorbild mehr

Die Menschen in Europa bringen seit Jahren Opfer. Die Ergebnisse sind, was Wachstum, Beschäftigung und Investitionen angeht, mager. Die Armut ist gestiegen. Phänomene, die man früher mit Entwicklungsländern verband – wie Mangelernährung, existenzielle Armut und Massenauswanderung –, treten auf einem Kontinent wieder auf, der kürzlich noch stolz schien, sie überwunden zu haben. In diesem Kontext sind Erfolge extremistischer Parteien wie des Front National in Frankreich beängstigend, aber nicht überraschend.

Aus lateinamerikanischer Sicht ist Europas Niedergang deprimierend. Die EU war ein Modell für wirtschaftlichen Erfolg, verbunden mit sozialer Sicherheit. Es scheint paradox, dass die USA, die traditionell freie Märkte verfechten, in der Krise unter Präsident Barack Obama eine allgemeine Krankenversicherung eingeführt haben, während die EU das soziale Netz beschneidet, das sie zu einem globalen Vorbild gemacht hatte.

 

Fernando Cardim de Carvalho ist Professor für Wirtschaftswissenschaften an der Universidade Federal do Rio de Janeiro.
fjccarvalho@uol.com.br

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