Global Governance
„Die Kompetenzen zur Veränderung sind vor Ort“
Herr Spiegel, was bedeutet für Sie Entwicklung?
Entwicklung meint nicht nur ökonomischen Erfolg, Machtgewinn oder technische Neuerungen, sondern insbesondere mehr Gemeinwohl, Solidarität und Gerechtigkeit. Entwicklung muss vierfach nützen: erstens den Hungernden oder Armgemachten; zweitens den benachteiligten Minderheiten wie Indigenen; drittens der Schöpfung, der Natur, dem Planeten; und viertens den künftigen Generationen. In Anlehnung an die im südlichen Afrika entstandene Ubuntu-Philosophie formuliert: Wir selbst können uns nur mit anderen gemeinsam entwickeln, nicht ohne sie oder gegen sie.
Im Sinne der UN-Nachhaltigkeitsziele ist jedes Land ein Entwicklungsland. Keines hat diese Ziele zu hundert Prozent erfüllt, alle sind Lernende. Die Ziele von Entwicklung können sich je nach Land, auch lokal, stark unterscheiden.
In welcher Hinsicht müssen sich Industrieländer entwickeln?
Sie müssen lernen, besser zuzuhören. Die Weltlage hat sich verändert. Wir merken etwa beim Krieg Russlands in der Ukraine und auch im Gazakrieg, dass die Staaten großer Bündnisse wie Mercosur, der Afrikanischen Union oder der Asia-Pacific Economic Cooperation nicht automatisch Verbündete des sogenannten Westens sind. Die Vorbehalte anderer gegenüber Europa und Nordamerika sollten wir ernst nehmen und nachfragen, wenn wir etwas nicht verstehen. Allzu oft halten wir uns selbst für die größten Universalisten und kümmern uns dabei vor allem um die Krisen und Weltprobleme, die uns unmittelbar selbst betreffen. Wenn Geberländer governancetauglich werden wollen, müssen sie nicht nur ihre Verteidigungsfähigkeit ausbauen, wie es derzeit viele tun, sondern auch globale Kooperation. Der Umbruch, in dem wir leben, ist eine Chance und kann ein Ausgangspunkt von Entwicklungsschüben sein.
Ebenso müssen wir lernen, dass unser europäischer Blick nicht die Gemeinwohlinteressen aller abdeckt. Es gibt nie nur die eine Geschichte, in der wir im Zentrum stehen, sondern immer auch die Geschichte der Vulnerablen, der Kolonisierten, die es zu hören und zu verstehen gilt. Obwohl in Deutschland beispielsweise viel über Migration diskutiert wird, ist vielen Menschen hierzulande nicht bekannt, dass die meisten Geflüchteten weltweit im eigenen Land als Binnenflüchtlinge leben.
Die Halbzeitbilanz der 17 UN-Nachhaltigkeitsziele (Sustainable Development Goals – SDGs) zeigte, dass die Weltgemeinschaft im Fahrplan bis 2030 weit zurückliegt. Sind die SDGs wirklich eine kohärente Agenda, an der sich Regierungen im Hinblick auf Entwicklung orientieren können – oder eher ein kaum erreichbares Ideal?
Die Vorgänger der SDGs, die acht Millenniumsziele für das Jahr 2015, wurden von vielen im sogenannten globalen Süden als Ziele Europas oder des globalen Nordens wahrgenommen, aber nicht als die eigenen. Mit den SDGs sind wir weitergekommen. Es sind weniger Ziele aus einer bestimmten Perspektive heraus, sondern eher integrale Entwicklungsziele, die einen Horizont eröffnen und Orientierung bieten. Misereor legt besonderen Wert auf das SDG-Motto „Leave no-one behind“. Niemand soll zurückbleiben auf diesem Planeten. Die Armen, Vulnerablen und die Natur kommen zuerst. Ihre Perspektive muss Teil der Diskussion sein, und wir können dazu beitragen, dass sie gehört werden.
Trotz ambitionierter Ziele: Überwiegen am Ende nicht doch nationale und regionale Interessen, auch angesichts der erwähnten geopolitischen Spannungen?
UN-Abkommen wie das 2023 verabschiedete zum Schutz der Biodiversität auf Hoher See zeigen, dass multilaterale Kooperation funktioniert, trotz nationalistischer Tendenzen. Globale Herausforderungen können wir auch nur global lösen. Allerdings haben Industrieländer Versprechen abgegeben, auch über Milliarden Hilfsgelder, die nicht eingehalten werden. Solidarität darf aber nicht nur versprochen, sondern muss auch gelebt werden. Also: Mehr Kooperation wagen, nicht zuletzt, um das Erdsystem zu stabilisieren.
Welche Rolle kommt dabei Geberorganisationen wie Misereor zu?
Sie sind das Ergebnis einer ungleichen, asymmetrischen Welt, auch von den Lebensstilen des globalen Nordens in den vergangenen 200 Jahren. Aus Sicht von Misereor geht es im Kern darum, Hilfe zu verteidigen, zu kritisieren und zu überwinden. Verteidigen müssen wir Hilfe dort, wo sie notwendig ist, weil Menschen in Not sind. Sie haben ein Recht darauf. Wir kritisieren aber Hilfe, wenn sie zu neuen Abhängigkeiten führt. Überwinden müssen wir sie insofern, als dass die Menschen selbst über ihre Geschichte bestimmen sollen. Unsere Aufgabe ist die Unterstützung der Vulnerablen, dahinter steht das langfristige Ziel, uns überflüssig zu machen beziehungsweise Hilfe zu überwinden.
Wie lässt sich vermeiden, dass Länder, die Unterstützung erhalten, in neue Abhängigkeiten geraten?
Bei Misereor sollen Projekte keine kolonialen Geber-Attitüden haben, sondern wir verfahren nach dem Antragsprinzip, wie übrigens auch die evangelische Geschwister-Organisation Brot für die Welt. Das heißt, erst dann, wenn Partner ein Projekt beantragt haben, bringen wir es auf den Weg. So kommen wir in den Dialog und zu einem guten Ergebnis. Die Qualität der Projekte bestimmen sowohl unsere Partner als auch wir. Es geht darin nicht nur um höhere Lebensqualität, sondern ebenso um Ownership. Die betroffenen Menschen und Gruppen erspüren, dass die Projekte ihre eigenen sind.
Ein beliebter Kritikpunkt an Entwicklungsprojekten ist mangelnde Nachhaltigkeit. Sobald sie enden, versanden oft auch die Fortschritte. Wie bleibt Entwicklung in den Empfängerländern?
Nach meiner Erfahrung ist es zentral, die kulturelle Dimension zu beachten, nicht nur die soziale, ökonomische und ökologische. Solange wir die Besonderheiten der Regionen und den Pulsschlag der Menschen vor Ort nicht kennen, werden wir nicht systemverändernd tätig sein können. Es mögen kurzfristige Vorteile entstehen, die aber nicht nachhaltig sind. Wir müssen darauf vertrauen, dass die Kompetenzen zur Veränderung vor Ort sind. Wir können sie bestärken und ermutigen, aber wir können sie nicht einfach exportieren. Für Misereor bedeutet das: Wir sind eine lernende Organisation. Im Dialog über die Projekte lernen wir unsere Partner vor Ort kennen und umgekehrt.
Außerdem arbeiten in unserer Hauptgeschäftsstelle in Aachen Menschen, die aus 19 verschiedenen Ländern kommen. Gerade eben war ich in einer Gruppe, die koloniales Erbe und Dekolonialisierung diskutiert. Menschen aus dem Senegal, Burkina Faso und Bangladesch erklärten, wie aus ihrer Sicht heute Neokolonialität systembedingt weitervererbt wird. Das geschieht etwa in Handelsverträgen, die ein asymmetrisches Verhältnis von Ressourcengebern und -empfängern spiegeln. Stattdessen sollten wir die Interessen und Bedürfnisse unserer Partner wahrnehmen. Deshalb unterstützt Misereor beispielsweise das Lieferkettengesetz der EU. Es soll unter anderem Produktionsketten transparenter machen und ermöglicht benachteiligten Gruppen, gegen Ausbeutung zu klagen.
Eine Mehrheit der EU-Staaten stimmte dem Lieferkettengesetz kürzlich zu – nach langen Debatten und erheblichem Widerstand, insbesondere auch aus Deutschland.
Die Haltung der Bundesregierung hat uns enttäuscht. Wir versuchten, im Rahmen unserer Möglichkeiten Einfluss zu nehmen, aber die Lobby der anderen Seite war stärker. Viele Unternehmen in Deutschland unterstützen das Lieferkettengesetz. Zugleich gibt es große Akteure und Parteirichtungen, die es für zu bürokratisch halten und Wettbewerbsfähigkeit beeinträchtigt sehen. Aus ökonomischer Sicht mag das kurzfristig nachvollziehbar sein. Aber um der Erde und der Menschen Willen müssen wir weniger in Konkurrenzen denken und mehr in Kooperationen. Der Abbau von Risiken oder Bürokratie darf nicht auf Kosten von Menschenrechten gehen. Sonst befriedigen wir nur kurzfristige Interessen, aber erreichen keine nachhaltige Entwicklung. Dies kann dazu führen, dass andere sagen: Ihr lebt Eure Werte nicht, Ihr habt eine Doppelmoral und seid scheinheilig.
Kann gezielt eingesetzte Entwicklungshilfe nicht sowohl Empfängerländer voranbringen als auch ökonomischen und politischen Interessen der Geberländer dienen?
Langfristige Entwicklung ist wichtig. Vertreter*innen des Westens argumentieren gern, dass sie in bestimmten Weltregionen schneller sein müssten als China, dass also ein geopolitisches Interesse zur Zusammenarbeit bestehe. Das habe ich zum Beispiel vor Ort beobachtet im Rahmen der Verabschiedung des Mercosur-Vertrages am Beispiel der Amazonasregion. Dies mag zwar auch eine geopolitische Frage sein. Aber in erster Linie geht es um den Amazonas, die Indigenen, unser Erdsystem. Erreicht der Amazonas seinen Kipppunkt, nützt das weder China noch Europa. Wir können die Erkenntnisse der Wissenschaft und unsere Wertesysteme nicht schleifen lassen. Die aktuelle Aufgabe, Verantwortung für das Erdsystem, Kooperation und wertebasierte Zusammenarbeit, bleibt, um im Heute das Morgen zu bauen.
Pirmin Spiegel ist Hauptgeschäftsführer des katholischen Werks der Entwicklungszusammenarbeit Misereor.
hgf@misereor.de