Binnenmigration

Zerrissenes Leben

Heute machen Binnenmigranten circa 29 Prozent der abhängig Beschäftig­ten in China aus. Ihre Zahl ist seit den 1980er Jahren ständig gewachsen. Damals lockerte die Regierung die Vorschriften über Wohnort und Arbeitsplatz und löste dadurch eine massenhafte Landflucht aus.
Binnenmigranten warten 2009 in Fujian auf den Zug nach Hause. Julio Etchart/Lineair Binnenmigranten warten 2009 in Fujian auf den Zug nach Hause.

Wie diese Menschen ihr familiäres Leben organisieren, was sie hoffen und wie sie ihr Einkommen verwenden, hat große gesellschaftliche Bedeutung. Einhard Schmidt-Kallert von der TU Dortmund und Peter Franke vom zivilgesellschaftlichen Forum Arbeitswelten gehen in einer aktuellen Studie diesen Fragen nach. Sie werfen ein Licht auf die Verbindung zwischen chinesischen Industriezentren und dem ländlichen Hinterland. Über mehrere Monate hinweg führten sie Interviews mit 78 Wanderarbeitern und ihren in der Heimat gebliebenen Familien. Die meisten Befragten hatten lange und abwechslungsreiche Migrationserfahrungen. Den Autoren zufolge sind kurzfristige Anstellungen in unterschiedlichen Städten und Phasen des Lebens in den Heimat­dörfern typisch.

Wohin Arbeitssuchende ziehen, werde oft vom familiären Umfeld, Nachbarn oder ehemaligen Schulkameraden beeinflusst, schreiben Schmidt-Kallert und Franke. Entscheidend sei die Hoffnung, eine Gruppe von Vertrauten in der neuen Heimat auf Zeit zu haben. Gearbeitet werde oft auf dem Bau, im Dienstleistungssektor und den Fabriken der boomenden Küstenregionen.

Schmidt-Kallert und Franke teilten die Familienkonstellationen in verschiedene Typen ein, abhängig davon, wer auf Arbeitssuche die Heimat verlässt und wer zurückbleibt. Manchmal ziehe nur der Vater fort, und Frau, Kind und Großeltern blieben zurück. Manchmal zögen beide Eltern davon, und manchmal werden auch Kinder mitgenommen. Typischerweise bestehe die jüngste Generation der Wanderarbeiter aus erwachsenen Kindern, die von den Städten aus versuchen, ihre Familien zu unterstützen.

Je nach Familienkonstellation schwanke der Einkommensanteil, der monatlich nach Hause geschickt wird, heißt es. Dies geschehe meist per Post oder Landwirtschaftsbank, den beiden Institutionen, die in fast jedem chinesischen Dorf eine Filiale haben. Die Unterstützung der Angehörigen reiße in der Regel nie ab, schreiben die beiden Autoren, allerdings variiere die Höhe stark. Das Geld werde für Gegenstände des täglichen Bedarfs, Düngemittel, Saatgut und Maschinen, aber auch Schulgeld verwendet. Es mache einen Großteil der Kaufkraft im ländlichen Raum aus.


Der Studie zufolge senden unverheiratete Frauen bis zu 80 Prozent ihres Einkommens nach Hause, während junge Männer oft deutlich weniger schicken. Das liege daran, dass von jungen Männern erwartet wird, dass sie vor der Familiengründung ein Haus bauen.

Generell wird bei jungen Wanderarbeitern eine Tendenz festgestellt, mehr Geld selbst zu behalten und der Familie weniger abzugeben. Dabei spielen Zukunfts­erwartungen eine große Rolle. Generell ­äußerten die Befragten keine großen Hoffnungen, nannten aber kleinere Pläne und Wünsche. Oft gehe es darum, in die Heimatregion zurückzukehren. Während die erste Generation der Wanderarbeiter (vor 1995) weiterhin nach Hause zurückkehren wolle, sehe die zweite Generation (1996 bis 2005) das Stadtleben deutlich positiver und denke daran, sich einen kleinen Betrieb aufzubauen. Die jüngste Generation (seit 2006) sehe das Stadtleben dagegen wieder mit größerer Skepsis.

Die Autoren begründen die Haltung der jungen Leute mit Erfahrungen der Isolation, des Leistungsdrucks und der Konkurrenz untereinander sowie mit fehlendem Gemeinschaftsleben. Allerdings äußerten speziell junge Frauen den Wunsch, ihre Unabhängigkeit zu behalten, die ihnen eigenes Einkommen und ein Leben außerhalb der Dorfgemeinschaft ermöglichen.

2008 führte die chinesische Regierung ein neues, flächendeckendes Gesundheitssystem ein, das jedem Chinesen Basisversorgung garantieren soll. Es passt aber der Studie zufolge nicht zur Lebensrealität von Wanderarbeitern, denn es ist an die Heimatorte gebunden. In großer Entfernung könnten Wanderarbeiter davon nicht profitieren, schreiben die Autoren. Für medizinische Behandlungen müssten sie nach Hause zurückkehren, was große finanzielle Einbußen bedeute. Viele könnten sich das aber nicht leisten. Auch bei Arbeitsun­fällen blieben Wanderarbeiter häufig unversorgt. Christina Stobwasser

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