Diabetes

Zuckerkrieg in Mexiko

Mit einer Softdrinksteuer, die Pioniercharakter hat, kämpft Mexiko gegen Fettleibigkeit und Diabetes. Doch die Industrielobby schlägt zurück – sogar mit Spionage-Software.
Präsident Enrique Peña Nieto hat 2013 eine nationale Strategie für die Prävention und Kontrolle von Übergewicht, Fettleibigkeit und Diabetes auf den Weg gebracht. picture-alliance/dpa Präsident Enrique Peña Nieto hat 2013 eine nationale Strategie für die Prävention und Kontrolle von Übergewicht, Fettleibigkeit und Diabetes auf den Weg gebracht.

Am 17. August 2016 erhielt Simón Barquera eine SMS-Nachricht, dass seine Tochter gerade einen Unfall gehabt habe, ihr Zustand sei ernst. Die Nachricht enthielt einen Link, der angeblich zu dem Ort führte, an dem sie im Krankenhaus lag. Doch das war eine Falle. Barquera, ein angesehener Gesundheitsexperte des Nationalen Instituts für Öffentliche Gesundheit, sollte auf den Link klicken, um Spionage-Software auf seinem Smartphone zu aktivieren. Es war die letzte Nachricht einer ganzen Serie. Einem Bericht des Citizen Lab der Universität Toronto zufolge erhielt Barquera insgesamt neun Nachrichten mit infizierten Links.

Mexikos Zuckerkrieg wird inzwischen also auch digital ausgefochten: mit Attacken gegen Gesundheitsexperten und Aktivisten, die sich für strengere Gesetze und Regulierungen engagieren, um Übergewicht und Krankheiten wie Diabetes zu bekämpfen. Neben Barquera erhielten auch Alejandro Calvillo, Gründer der Verbraucherschutzorganisation El Poder del Consumidor (Die Macht des Verbrauchers), sowie Luis Encarnación von dem Netzwerk Coalición ContraPESO („Koalition GegenGEWICHT") Nachrichten mit infizierten Links.

Sie alle hatten bei einer Konferenz eine klarere Etikettierung ungesunder Produkte sowie eine Erhöhung der mexikanischen Softdrinksteuer gefordert. 2014 war die innovative Steuer als Teil eines Maßnahmenpakets beschlossen worden. Zuckerhaltige Getränke wie Cola oder Limo werden seitdem mit einem Peso pro Liter besteuert, etwa zehn Prozent des Verkaufspreises. Für Getränkehersteller geht es um ein Milliardengeschäft.

Softdrinks gehören ebenso zum mexikanischen Alltag wie Fleisch und Fast-Food. Beim Pro-Kopf-Verbrauch zuckerhaltiger Getränke liegt Mexiko global ganz vorn: Durchschnittlich trinkt jeder Mexikaner 163 Liter der sogenannten „Refrescos“ (Erfrischungsgetränke) – fast einen halben Liter täglich.


Globaler Diabetes-Champion

Das Land ist ebenfalls Champion bei Übergewicht und Diabetes. Mehr als zwei Drittel der erwachsenen Mexikaner leiden einem UN-Bericht zufolge an Übergewicht oder Fettleibigkeit. Das Land hat inzwischen sogar die USA als Nation mit den meisten Übergewichtigen abgelöst. Der OECD zufolge hat Mexiko unter Entwicklungsländern die höchste Rate von Diabetes-Fällen; Diabetes und Herzkrankheiten zählen zu den häufigsten Todesursachen.

Schon kleine Kinder sind übergewichtig, erkranken an Diabetes oder leiden an Folgeerkrankungen wie Schlaganfällen, Nieren-, Netzhaut- oder Nervenschäden. „Was die Zuwachsraten der Fettleibigkeit betrifft, ist Mexiko in einer Sättigungsphase“, sagt Barquera. „Sie liegen zwar nicht mehr bei den Geschwindigkeiten der 90er, aber den letzten Untersuchungen zufolge ist es auch nicht gelungen, das Problem gravierend zu verringern.“ Die Zukunft Mexikos hänge davon ab, ob es gelinge, eine effektive Gesundheitspolitik durchzusetzen und die Bevölkerung zu einem gesünderen Lebensstil zu motivieren.

Vor allem vielen Familien mit geringem Einkommen fehlen das Wissen um gute Ernährung, aber auch das Geld oder die Zeit, um gesunde Lebensmittel zu kaufen und selbst zu kochen – so wird das Problem an die nächste Generation weitervererbt. Abelardo Ávila Curiel von Mexikos Nationalem Lebensmittelinstitut bezeichnete das Übergewichtsproblem des Landes in einem CBS-Interview als „eine ernsthafte Epidemie“. „In den armen Bevölkerungsschichten haben wir übergewichtige Eltern und schlecht ernährte Kinder“, sagt der Wissenschaftler. „Das Schlimmste ist, dass die Kinder so zur Fettleibigkeit programmiert werden.“

Hinter dem Erfolg der Softdrinks steckt vor allem cleveres Marketing. Konzerne wie Coca-Cola und PepsiCo geben jedes Jahr Milliarden aus, um die Getränke auch im Alltag von Kindern, Minderheiten und einkommensschwachen Bevölkerungsgruppen zu verankern. Distributionssysteme bis in entlegene Dörfer hinein und aggressive Werbekampagnen sorgen für einen Massenabsatz. Er wird flankiert von politischer Lobbyarbeit sowie Spenden an Gesundheitsorganisationen und Wissenschaftler, deren Studien die gesundheitliche Wirkung der Getränke schönfärben. Um ihr Image zu verbessern, finanzieren die Konzerne soziale Kampagnen oder Sportevents.


90 Jahre Coca-Cola

Coca-Cola produziert und verkauft in Mexiko seit 1926 Softdrinks. In den 1950er Jahren begann der Konzern, mit massiven Marketingkampagnen den Absatzmarkt zu erobern. „In den 1970er Jahren waren Softdrinks fest im Alltag etabliert“, schreibt die Gesundheitsexpertin Marion Nestle in ihrem Buch „Soda Politics“. Die Verbindungen des Konzerns reichen bis hinauf in die Machtelite. Vicente Fox war Lateinamerika-Chef von Coca-Cola, bevor er 2000 zum Präsidenten gewählt wurde. Während seiner Amtszeit stieg der Konzern zum Marktführer auf und verdoppelte seinen Umsatz fast.

Der Getränkehersteller hat sich auch indigene Bevölkerungsgruppen als Zielgruppe erschlossen, die oft unter Diskriminierung, Armut, Unter- und Mangelernährung und eingeschränkten Bildungs- und Aufstiegschancen leiden. Das Getränk ist sogar auf Dörfern erhältlich, in denen eine öffentliche Versorgung etwa mit Schulen, sauberem Trinkwasser oder Internet fehlt. In San Juan Chamula, einem Dorf im Süden von Mexiko, hat die Tzotzil-Bevölkerung Cola-Flaschen sogar in ihre heiligen Rituale eingebaut. Mit dem Rülpsen nach dem Trinken entweichen angeblich auch die bösen Geister.

Vor Weihnachten 2015 veröffentlichte der Konzern einen Spot, der die Diskriminierung von indigenen Mexikanern anprangern und Vielfalt und Zusammenhalt vermitteln wollte. Darin beglückt eine Gruppe weißer, schlanker Jugendlicher ein indigenes Dorf im Süden des Landes mit Party-Dekoration und Coca-Cola. Das Video ging viral – allerdings anders, als der Getränkehersteller sich das vorgestellt hatte. Tausende Mexikaner beschwerten sich über die koloniale Attitüde und das Konsumversprechen als vermeintliche Lösung für die soziale Kluft. Verbraucherschutzorganisationen prangerten den Spot als „Angriff auf die Würde“ indigener Menschen an. Die Firma entschuldigte sich und zog ihn zurück.


Reformpaket gegen Übergewicht

Laut Barquera teilt inzwischen ganz Lateinamerika in den sozialen Netzwerken Informationen zur Gesundheitskrise und organisiert sich. Das Problem: Auch die Gegenseite setzt auf digitale Kampagnen. „Leider haben diejenigen, die sich einer am Gemeinwohl orientierten Gesundheitspolitik entgegenstellen, mehr Budget und neutralisieren so den Widerstand in den sozialen Netzwerken", bedauert der Wissenschaftler. Einzelne Bemühungen in lateinamerikanischen Ländern seien zwar erfolgreich gewesen, aber es fehle eine koordinierte, internationale Antwort, um die UN-Empfehlungen umzusetzen – und die Bereitschaft der Industrie, politische Maßnahmen gegen Fettleibigkeit zu respektieren.

Letzteres bleibt eine Hoffnung. Mexiko hat zwar 2013 eine nationale Strategie für die Prävention und Kontrolle von Übergewicht, Fettleibigkeit und Diabetes auf den Weg gebracht. 2014 wurde die Softdrinksteuer eingeführt. Doch in weiten Teilen entsprach die Reform eher einer Art Selbstverpflichtung der Lebensmittelkonzerne, mit zahlreichen Schlupflöchern.

„In Mexiko fehlen eine strikte Regulierung von Werbung für Getränke und Nahrungsmittel, die sich an Kinder richtet, und eine Etikettierung, die schnell erkennen lässt, ob ein Produkt ungesund ist und warum“, kritisiert Barquera. Auch ein Verbot von Werbung für ungesunde Lebensmittel und Getränke im Bereich von Schulen hält er für sinnvoll. Staatliche Kampagnen könnten den Verbrauch von Wasser statt Softdrinks fördern, und auch Sportangebote könnten helfen. Bei der Prävention von Diabetes und dem Selbstmanagement der Krankheit durch Betroffene bestehe ebenfalls Nachholbedarf.

Das größte Hindernis sieht Barquera jedoch in den Getränkefirmen, vor allem den transnationalen. Diese kämpften erbittert gegen das politische Ziel, den Zuckerkonsum im Land zu verringern. „Diese Konzerne haben Druck auf den Kongress ausgeübt, sie haben versucht, in Gremien hereinzukommen, die Entscheidungen treffen, und sie fördern Stiftungen finanziell, die ihre Positionen unterstützen.“

Trotz allem gilt die mexikanische Zuckersteuer als Erfolg. Eine Anfang 2016 in der medizinischen Fachzeitschrift BMJ veröffentlichte Studie attestiert der Steuer einen positiven Effekt: Die Mexikaner kauften bis Dezember 2014 12 Prozent weniger der steuerpflichtigen Softdrinks. Vor allem einkommensschwache Haushalte stellten ihr Konsumverhalten als Reaktion auf den Preisanstieg um. Kontinuierliches Monitoring ist den Autoren zufolge allerdings notwendig, um das langfristige Konsumverhalten und Auswirkungen auf die Gesundheit zu analysieren – und zu welchen Alternativgetränken die Menschen greifen, wenn ihnen die Softdrinks zu teuer sind. Untersuchungen belegen auch, dass die Softdrinksteuer keinen negativen Einfluss auf die Wirtschaft hat, also keine Massenentlassungen stattfinden müssen – eines der Hauptargumente der Industrie.

Sowohl die Getränkehersteller als auch andere Länder beobachten die Entwicklungen in Mexiko genau. Denn die Steuer könnte als Modell dienen, wenn sie nachweislich funktioniert. Im Herbst 2016 hat England angekündigt, ab 2018 eine Zuckersteuer zu erheben, die „Soft Drinks Industry Levy“ (SDIL).


Sonja Peteranderl ist freie Journalistin.
sonja.peteranderl@googlemail.com


Literatur

Nestle, M., 2015: Soda politics. Taking on big soda. New York, Oxford University Press.

Arantxa Colchero, M. et a, 2016: Beverage purchases from stores in Mexico under the excise tax on sugar sweetened beverages.
http://www.bmj.com/content/352/bmj.h6704

 

 

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