Staatskrise

Venezuela am Abgrund

Im vergangenen Jahr hat sich die Krise in Venezuela in allen Bereichen verschärft. Hyperinflation, zunehmende Entwicklung zur Diktatur mit militärischem Einschlag und eine humanitäre Notlage bestimmen das Leben der Menschen – und ziehen Folgen auf internationaler Ebene nach sich.
Kinder in einer von der Opposition finanzierten Suppenküche in Caracas, wo es kostenfreie Mahlzeiten gibt. Llano/picture-alliance/AP Images Kinder in einer von der Opposition finanzierten Suppenküche in Caracas, wo es kostenfreie Mahlzeiten gibt.

Venezuela kann seine internationalen Zahlungsverpflichtungen teilweise nicht mehr erfüllen, seit das Land im Oktober in eine Hyperinflation eintrat. Politisch geht es immer weiter Richtung Diktatur, wobei auch das Militär eine große Rolle spielt. Und die Bevölkerung befindet sich in einer humanitären Notlage aufgrund von Lebensmittel- und Medikamentenknappheit und einer schweren Krise des Gesundheitssystems (siehe auch meinen Kommentar in E+Z/D+C).

Die Situation hat auch internationale Folgen. Zum einen hat die Zahl der Migranten stark zugenommen, was sich vor allem auf die Grenzregionen zwischen Venezuela und Kolumbien sowie Brasilien auswirkt, aber auch auf andere Länder in der Region. Zum anderen übt die internationale Gemeinschaft verstärkt Druck auf die Regierung von Nicolás Maduro aus, die sie als Diktatur wahrnimmt, die offen Menschenrechte verletzt. Der Druck hat dazu geführt, dass nun Teile der Opposition mit der Regierung verhandeln, wobei der Ausgang dieses Prozesses vollkommen unklar ist.

Während die Inflation 2017 schon mehr als 2 600 Prozent betrug, liegen die Voraussagen für 2018 – wenn keine wirtschaftspolitischen Gegenmaßnahmen ergriffen werden – zwischen 5 000 und 10 000 Prozent. Die Ölproduktion ist aufgrund mangelnder Instandhaltung der Anlagen und ausbleibender Neuinvestitionen zurückgegangen. Die Folge ist ein Quasi-Zusammenbruch des gesamten Sektors. So sind auch die Mittel, die die Regierung zur Verfügung hat, immer weiter zusammengeschmolzen, denn das Land hängt zu rund 95 Prozent vom Öl ab.

Seit November können die Regierung und die staatliche Erdölgesellschaft PDVSA ihre Auslandsschulden nicht mehr oder nicht fristgemäß bedienen. Wichtige internationale Finanzinstitute bewerteten die Situation in Venezuela als begrenzten Zahlungsausfall und gehen davon aus, dass es in diesem Jahr noch schlimmer wird.

Von den USA und Kanada verhängte Sanktionen gegen Amtsträger und bestimmte Transaktionen dienten der Regierung als perfekte Entschuldigung. Sie ordnete die Maßnahmen unter dem Stichwort „Wirtschaftskrieg“ ein und stilisierte sich damit als Opfer. Im Januar kamen erste EU-Sanktionen hinzu. Gegen sieben Minister und Beamte wurden Einreiseverbote und Vermögenssperren verhängt.

Die Wirtschaftskrise hat enorme Auswirkungen auf das Leben der Menschen im gesamten Land. Der Mangel an Lebensmitteln und Medikamenten hat zu einer gravierenden Verschlechterung der Lebensqualität geführt. Dazu kam die Inflation. Die Umfrage Encovi (Encuesta sobre Condiciones de Vida en Venezuela), durchgeführt von den wichtigsten unabhängigen Universitäten Venezuelas, ergab, dass 2016 82 Prozent aller Haushalte arm waren, 52 Prozent von ihnen sogar extrem arm. Die Mangelernährung der Menschen bildete sich darin ab, dass 72 Prozent der Befragten von unerwünschtem Gewichtsverlust berichteten und 30 Prozent angaben, höchstens zweimal am Tag etwas zu essen.

Zudem hat die Ungleichheit in der Gesellschaft stark zugenommen. In dem Maß, in dem die Krise sich zuspitzte, legten 2017 auch alle entsprechenden Indikatoren zu. Armut und Mangelernährung, besonders bei Kindern, sowie Todesfälle durch Verhungern und fehlende Medikamente sind auf dem Vormarsch.

Der politische Niedergang in der zweiten Jahreshälfte 2017 wurde vor allem in den Vorwürfen der Wahlfälschung in Bezug auf alle drei Wahlen des Jahres deutlich. Sie zogen die demokratische Legitimität der Herrschenden stark in Zweifel. Den Anfang machte die Aufstellung der Mitglieder der Verfassungsgebenden Versammlung. Die Opposition war daran nicht beteiligt und kritisierte sie daher als verfassungswidrig.

Nach Angaben der obersten Wahlbehörde nahmen mehr als 8 Millionen Wähler an der Wahl der Verfassungsgebenden Versammlung teil; die Opposition ging von weitaus kleineren Zahlen aus. Nicht einmal Ex-Präsident Hugo Chávez hat in seinen besten Zeiten eine derart hohe Wahlbeteiligung erreicht. Das Unternehmen Smartmatic, das seit 2004 die Abstimmungsgeräte und die dafür nötige Software liefert, bestätigte Manipulationen der Ergebnisse.

Bei den Gouverneurswahlen am 15. Oktober trat die Mehrheit der Oppositionsparteien an. Sie beklagten jedoch eine Reihe von Unregelmäßigkeiten, die zum größten Teil auch dokumentiert waren. Diese führten zu überraschenden Ergebnissen: 18 Gouverneursposten gingen an die Regierung und nur fünf an die Opposition.

Aufgrund von Vorwürfen der Wahlfälschung, die auch einen Missbrauch der Carnet de la Patria – neuer, von der Regierung ausgestellter Ausweise – durch die Regierungspartei Partido Socialista Unido de Venezuela (PSUV) betraf, beschloss das Oppositionsbündnis Mesa de la Unidad Democrática (MUD), nicht an den Bürgermeisterwahlen im Dezember teilzunehmen. So gewann die Regierungspartei die Macht in einer überragenden Mehrheit der Gemeinden.


Politikverdrossenheit

Die Vormachtstellung der Regierungspartei und die Wahlfälschungen führten zu zunehmender Politikverdrossenheit im Lager der Opposition. Einige Oppositionsführer, die sich im September zu der Allianz „Soy Venezuela“ zusammengeschlossen haben, beförderten diese offen. Zum anderen scheint die Regierung die Strategie zu verfolgen, das Vertrauen ins Wahlsystem zu schwächen und die Opposition zu spalten.

Ein weiterer wichtiger politischer Faktor ist das Gebaren der Verfassungsgebenden Versammlung. Sie hat sich für generalbevollmächtigt erklärt und wichtige Machtpositionen übernommen. Zudem ist sie zu einem Organ politischer Verfolgung geworden, angefangen bei der unrechtmäßigen Absetzung der Generalstaatsanwältin, die durch einen regierungsnahen Funktionär ersetzt wurde.

Ihr größtes Verdienst bestand bis Ende 2017 darin, dass sie Führungspersonen der staatlichen Erdölgesellschaft der Korruption beschuldigt hat. Die aktuelle Regierung gilt als die korrupteste, die Venezuela jemals hatte. Es könnte jedoch sein, dass die aktuellen Vorwürfe eher auf interne Konflikte innerhalb der Regierungspartei zurückzuführen sind als auf wirklichen Willen zur Aufklärung.

Obwohl die Verfassunggebende Versammlung offiziell keine gesetzgebende Macht hat, erließ sie das „Verfassungsgesetz gegen den Hass, für das friedliche Zusammenleben und die Toleranz“. Es öffnet der Verfolgung Andersdenkender Tür und Tor.

Ein weiterer Faktor ist die wachsende Rolle, die das Militär in den wichtigsten Regierungsbereichen spielt. Mehr als 30 Prozent des Kabinetts besteht aus aktiven Militärangehörigen oder solchen im Ruhestand. Es steht die Frage im Raum, ob man in Venezuela von einer neuen Art der Militärherrschaft sprechen kann.

Jüngstes Beispiel ist die Berufung eines Generals der Guardia Nacional Bolivariana – eines Teils der Streitkräfte – zum Energieminister und gleichzeitig zum Chef von PDVSA. Er verfügt über keinerlei Kenntnisse oder Erfahrungen im Ölgeschäft und ist kaum geeignet, diese Industrie aus ihrer schweren Krise zu führen. Aber im Machtkampf innerhalb der Regierungselite kann er den Militärs die Tür zur wichtigsten Branche des Landes öffnen.

Der Druck der internationalen Gemeinschaft hat einen Verhandlungsprozess in Gang gesetzt, den die Regierung „Dialog“ nennt. Er wird vom ehemaligen spanischen Ministerpräsidenten Rodríguez Zapatero und dem Präsidenten der Dominikanischen Republik, Danilo Medina, moderiert. Weitere Teilnehmer sind, auf Wunsch der Opposition, die Außenminister Chiles und Mexikos sowie Vertreter Boliviens, Nicaraguas und von St. Vincent und den Grenadinen. Auf der Agenda stehen unbestätigten Angaben zufolge unter anderem die Themen politische Rechte und Gefangene, wirtschaftliche und soziale Situation und Verfassungsgebende Versammlung und Wahrheitskommission.

Bis Mitte Januar gab es mehrere Treffen, ohne dass die Verhandlungspartner eine Einigung erreicht hätten. Es bestehen große Zweifel daran, dass sich die Parteien auf wirtschaftliche und politische Reformen einigen können, die zur Neuordnung der Verwaltungsorgane und Wiederherstellung der Demokratie des Landes führen – vor allem angesichts der humanitären Notlage.

Fundamental ist die Frage, ob der Hauptgrund der derzeitigen Situation in einer gespaltenen Gesellschaft liegt (zwischen Regierungs- und Oppositionslager) oder in einer kleinen Elite, die ihre institutionelle und militärische Macht dazu nutzt, die Fäden in der Hand zu behalten – ungeachtet der Tatsache, dass die Mehrheit des Volkes einen Wandel wünscht.


Francine Jácome ist Geschäftsführerin und Forscherin am Venezuelan Institute for Social and Political Studies (INVESP).
fjacome@invesp.org

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