Soziale Medien

„Die große Mehrheit bekommt keinerlei Sexualaufklärung“

Der Facebook-Aussetzer im Oktober störte junge Menschen in Ländern mit niedrigen und mittleren Einkommen nicht sonderlich. Im Gegensatz zu Altersgenossen in Hocheinkommensländern sind sie an unzuverlässige Infrastrukturen gewohnt. Wie alle Teenager nutzen auch sie das Internet auf der Suche nach ihrem Platz im Leben. Dabei sind ihre Möglichkeiten stärker eingeschränkt – was für Mädchen besonders gilt. Globale Regulierung ist nötig, um User vor destruktiver Propaganda zu schützen. Payal Arora von der Erasmus-Universität Rotterdam erläutert ihre Sicht im Interview.
Selfie-Aufnahme: Viele indische Mädchen haben kein eigenes Smartphone. picture-alliance/ZUMAPRESS.com/Prabhat Kumar Verma Selfie-Aufnahme: Viele indische Mädchen haben kein eigenes Smartphone.

Wie nutzen Teenager in Entwicklungs- und Schwellenländern das Internet?
Einem Mythos zufolge erwerben sie Kenntnisse, bauen berufliche Fähigkeiten aus und gründen vielleicht auch kleine Firmen, um der Armut zu entkommen. Die Kehrseite dieser Superheldenerzählung ist, dass sie dem rückständigen Denken ihrer Gemeinschaften entkommen und mehr wie „wir“ in Europa und Nordamerika werden sollen. Es geht aber um Teenager. Das ist ein Alter der Selbsterkundung, nicht der Selbstperfektion. Jugendliche suchen ihren Platz im Leben und wollen wissen, was sie bewirken können. Sie suchen nach Sinn, Freundschaft, Engagement und Unterhaltung. Anders als Kinder trauen sie nicht einfach dem Urteil der Eltern, sondern wollen Dinge selbst beurteilen. Das Internet hilft dabei – und es schafft dafür auch eine gewisse Privatsphäre. Bedenken Sie, dass die meisten kein eigenes Zimmer haben. Viele leben mit Eltern, Geschwistern und vielleicht auch Großeltern in einem einzigen Raum.

Der Handybildschirm wird quasi zum eigenen Zimmer?
Ja, und das gilt insbesondere für Mädchen, die nicht einfach ausgehen und sich nach Belieben mit Altersgenossen treffen können. Selbst der Zugang zu digitaler Technik ist nicht selbstverständlich (siehe Ipsita Sapra im Magazinteil des E+Z/D+C e-Paper 2021/10). Vielfach herrscht eine Sicht, die sich mit „Gute Mädchen sind nicht auf Facebook“ zusammenfassen lässt. Die Reputationsrisiken sind erheblich. Soziale Medien erfordern unstrukturierte Zeit, aber weibliche Jugendliche werden in Entwicklungsländern im Haushalt eingespannt. Eltern fragen, ob sie nichts Besseres zu tun hätten, als in sozialen Medien herumzulungern. Familien sorgen sich um ihr Ansehen und verfolgen genau, was ihre Töchter machen – wobei oft Nachbarn und Religionsgemeinschaft mithelfen. Dennoch bieten Internet und soziale Medien Teenagerinnen Freiheiten, die ihre Mütter nicht hatten, wenn sie denn Zugang zum Internet haben und sich dort ungefährdet und anonym umschauen können.

Wie ist das ohne eigenes digitales Gerät möglich?
Manche Mädchen haben ein Mobiltelefon, und viele andere benutzen Geräte, die einem anderen Familienmitglied gehören. Zum Schutz ihrer Reputation präsentieren sie sich im Netz gern als Tugendwäch­terinnen, indem sie sich über reiche Mädchen und deren unmoralische Fotos mokieren. Einerseits bekräftigen sie so konservative Normen, aber andererseits verschaffen sie sich einen Eindruck davon, was außerhalb ihrer eng gestrickten und autoritären Gemeinschaften geschieht. Wir sollten, was sie posten, nicht mit dem verwechseln, was sie denken. Sie müssen sich konservativ geben, um überhaupt online aktiv zu werden. Viele nutzen das Netz auch inkognito. Beliebt ist auch, eine neue Person zu kreieren und diese ohne Entdeckungsgefahr sagen zu lassen, was sie wirklich denken.

Instagram kann das Selbstwertgefühl von Mädchen beeinträchtigen, wenn sie sich nicht schön genug finden. Gilt das auch für die Mädchen, die Sie meinen?
Nein, sie haben größere Sorgen. Sie wollen sich gar nicht zeigen und auch bestimmt nicht gesehen werden. Großenteils akzeptieren sie herkömmliche Werte, zugleich sind sie aber neugierig und wollen sich umschauen. Eine Teenagerin sagte mir, ihre Eltern hätten ihr ein Smartphone nach der Hochzeit, die sie arrangieren wollten, in Aussicht gestellt. Daraufhin nahm sie heimlich mit dem Bräutigam Kontakt auf und bat ihn, ihr ein Handy zu kaufen, damit sie sich besser kennenlernen könnten. Der junge Mann war einverstanden, forderte aber alle Passwörter, um sie im Internet beobachten zu können. Das fand sie fair – denn er zahlte, ging selbst ein Risiko ein und würde eines Tages ihr Mann sein.

Ist Online-Pornographie relevant?
Ja, Pornhub ist mittlerweile die Sexualaufklärungsinstitution mit der größten Reichweite. Dabei ist diese Website für einen ganz anderen Zweck gedacht – nämlich mit der Stimulierung der Fantasien von Männern Geld zu verdienen. Ich will Internet-Pornographie nicht feiern, aber auch nicht unterschlagen, dass sie viele Jugendliche weltweit hilfreich finden. Versetzen Sie sich in die Lage von Jugendlichen in Entwicklungsländern, die homosexuelle Neigungen entdecken. Ihr gesellschaftliches Umfeld redet ihnen ein, sie seien krank, denn niemand sonst empfinde so. Wenn sie dann im Netz sehen, wie verbreitet homosexuelle Pornos sind, wird ihnen zumindest klar, dass viele Menschen solche Neigungen haben müssen.

Wie Modefotografie arbeitet aber auch Pornographie mit unrealistischen Körperidealen. Es geht um Fantasien, nicht um Wirklichkeit, wie Sie schon sagten. Brauchen Jugendliche dann nicht Rat?
Das wäre gut, aber die große Mehrheit bekommt keinerlei Sexualaufklärung. Und es geht um mehr als Sex. In vielen Kulturen erfahren heranwachsende Mädchen nichts Wichtiges über ihre Körper (siehe Mahwish Gul im Schwerpunkt des E+Z/D+C e-Paper 2020/04). Sie wissen nichts über Menstruation, bis sie einsetzt. Alles ist mit Scham besetzt. Sie haben keine klare Vorstellung davon, wie eine Schwangerschaft beginnt oder welche Krankheiten sexuell übertragen werden. Bei Sex geht es um Lust und Freude, aber Mädchen sollen das nicht erleben. „Gute“ Mädchen dürfen nicht einmal Interesse daran zeigen. Immer wieder fürchten Teenagerinnen, nur weil sie einen Kuss riskiert haben, ein Kind zu bekommen. Das Unwissen schafft großes Leid, lässt sich aber nicht leicht beenden. Für viele junge Menschen sind Online-Pornos die einzige Informationsquelle – auch wenn sie keine ausreichende Sexualaufklärung bieten.

Im Oktober fiel Facebook mehrere Stunden lang aus. WhatsApp and Instagram, die Facebook gehören, waren ebenfalls betroffen. Teenager in reichen Ländern waren empört – wie war das anderswo?
Die Leute waren nicht sonderlich beunruhigt, sie sind Schlimmeres gewöhnt. Versorgungssysteme – für Strom und Wasser zum Beispiel – sind in Entwicklungsländern tendenziell weniger zuverlässig. Obendrein ist es nichts Besonderes mehr, wenn Regierungen einzelne Websites oder auch das ganze Internet aus politischen Gründen sperren. In Nigeria war Twitter monatelang gesperrt. In Kaschmir gab es lange gar kein Internet mehr. Lokale Blackouts sind nicht ungewöhnlich.

In welchem Maß tragen Facebook und andere soziale Medien zur Radikalisierung von Jugendlichen in Asien, Afrika und Lateinamerika bei? Kürzlich machte eine Whistleblowerin bekannt, dass Facebook-Algorithmen Wut und Hass verstärken, um Leute auf Facebook zu halten.
Viel von dem, was Jugendliche im Netz machen, ist völlig unpolitisch. Leider stimmt es aber, dass Extremisten das Internet – und insbesondere soziale Medien – für Propaganda und Mobilisierung nutzen. Wir brauchen eine unabhängige und globale Instanz, die dafür sorgen kann, dass Menschen valide und wahrhaftige Information bekommen. Diese Aufgabe kann man weder nationalen Regierungen noch Technologiekonzernen überlassen, denn die Wirkungen überschreiten Grenzen. Plattformbetreiber tun bislang so, als seien sie bloße Kontaktvermittler ohne Verantwortung für das, was bei ihnen veröffentlicht wird. Dabei haben sie auf das Alltagsleben viel größere Auswirkungen als konventionelle Medienbetriebe. Soziale Medien sind zu einer für das Gemeinwohl wesentlichen Infrastruktur geworden. Das liegt unter anderem an ihrem riesigen Netzwerkeffekt. Problematisch ist unter anderem, dass sie so viele persönliche Daten sammeln. Trotzdem überlassen wir viele wichtige Entscheidungen profitorientierten Unternehmen. Gewählte Politiker müssten sich der Verantwortung stellen und für globale Zusammenarbeit sorgen. Sie scheuen vor ihrer Pflicht zurück. Es ist falsch, alles war schiefläuft, Milliardären wie Facebook-Gründer Mark Zuckerberg vorzuwerfen.

Aber Leute wie er tun doch ihr Möglichstes, um nicht Regulierungen unterworfen zu werden.
Klar, aber trotzdem haben die konventionellen Medien den jüngsten Facebook-Skandal nicht gut kommentiert. Sie haben abermals Zuckerberg attackiert, vernachlässigten darüber aber das grundlegende Thema, dass die Politik in internationaler Kooperation stimmige Internet-Governance global ermöglichen und verfestigen muss. Positiv ist aber, dass dieses Thema nun Politikern mit sehr unterschiedlichen Weltbildern Sorgen bereitet. Das kann gemeinsames Handeln möglich machen.


Payal Arora ist Digital-Anthropologin und Professorin an der Erasmus School of Philosophy in Rotterdam. Ihr Buch „The next billion users“ erschien 2019 bei Harvard University Press.
LinkedIn: https://www.linkedin.com/in/payalarora/
Twitter: @3Lmantra

 

Korrektur, 31.10. 20211: Wir haben die Schlagzeile zu "Die Mehrheit bekommt keinerlei Sexualaufklärung". geändert, um den wesentlichen Punkt zu betonen. Die ursprüngliche Version war weniger eindeutig und besagte, Pornovideos böten keine "ausreichende Sexualaufklärung". 

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