Europäische Union

EU nimmt Kohärenz nicht ernst

Die Europäische Union hat sich zur Politikkohärenz für Entwicklung verpflichtet. Damit erkennt sie an, dass andere Politikbereiche eine Mitverantwortung für Entwicklung tragen, und schreibt fest, dass bei jeder politischen Entscheidung die Auswirkungen auf Entwicklungsländer zu berücksichtigen sind. In der Praxis wird die EU diesem Anspruch jedoch nicht gerecht.
Europas Handelspolitik beeinflusst Entwicklungschancen: Frauen sortieren Garnelen in einer Fabrik im indischen Kochi für den Export in die EU. Böthling/Photography Europas Handelspolitik beeinflusst Entwicklungschancen: Frauen sortieren Garnelen in einer Fabrik im indischen Kochi für den Export in die EU.

Laut EU-Agrarkommissar Phil Hogan steht Europas Landwirten eine rosige Zukunft bevor: „Der Bedarf an Nahrungsmitteln steigt weltweit, alle Zeichen sind positiv“, sagte er auf der Grünen Woche im Januar in Berlin. Interessenkonflikte sieht Hogan bei seiner Exportstrategie nicht. Im kürzlich veröffentlichten Kohärenzpapier seiner Kommission preist Hogan die Wirtschaftspartnerschaftsabkommen (WPA) der EU mit den Ländern Afrikas, der Karibik und des Pazifiks (AKP-Staaten) und die Offenheit des EU-Marktes für Agrarimporte aus dem globalen Süden als Positivbeispiele „praktischer Umsetzung von Politikkohärenz“.

Doch was bedeutet Politikkohärenz für Entwicklung (Policy Coherence for Development, PCD) konkret? Das Konzept ist simpel: Mächtige Staaten und Staatenblöcke wie die EU sollen ihre Politik in wichtigen Bereichen so ausgestalten, dass sie den eigenen entwicklungspolitischen Konzepten nicht entgegensteht. Idealerweise sollte sie sogar einen positiven Beitrag zur Entwicklung leisten. Zum Erreichen der Entwicklungsziele sind laut dem EU-Außenministerrat besonders die Bereiche Handel und Finanzen, Klimawandel, Ernährungssicherheit, Migration und Sicherheit wichtig.

Die EU-Kommission überprüft die eigenen Anstrengungen und die der Mitgliedstaaten alle zwei Jahre, zuletzt 2013. Die Wirkungsanalysen beinhalten seit 2009 auch die Wirkungen auf Entwicklungsländer. Die oben zitierte Aussage von Agrarkommissar Hogan steht jedoch für ein Grundproblem: Die wenigsten Beamten in Brüssel nehmen das Konzept wirklich ernst und setzen sich für seine praktische Umsetzung ein. Auf höchster politischer Ebene ist die entwicklungspolitische Kohärenz reine Rhetorik. Die folgenden drei Beispiele belegen das.


Wirtschaftspartnerschaftsabkommen

Nur durch massiven Druck auf zahlreiche Partnerländer ist es der EU im vergangenen Jahr gelungen, mit Westafrika (ECOWAS), dem östlichen und südlichen Afrika (ESA), Ostafrika (EAC) und dem südlichen Afrika (SADC) WPA abzuschließen. Den Ländern mittleren Einkommens hatte Brüssel zum 1. Oktober 2014 mit der Streichung von Vorzugszöllen gedroht, falls diese den WPA ihre Zustimmung verweigern sollten.

Partnerorganisationen des katholischen Hilfswerks Misereor, insbesondere in Westafrika, fürchten, dass die im WPA vorgeschriebenen Zollsenkungen für EU-Produkte den Marktzugang für lokale Produkte erschweren, etwa für Milchprodukte, Geflügel und Tomaten. Die Organisationen sehen dadurch das Menschenrecht auf Nahrung lokaler Kleinbauern gefährdet.

Dagegen argumentiert das Kohärenzpapier der EU-Agrarkommission, die WPA seien entwicklungskohärent, da sie den AKP-Staaten nach wie vor erlauben, bis zu 20 Prozent ihrer Produkte von der Liberalisierung auszunehmen. Doch selbst für diese sensiblen Produkte verbieten die WPA den afrikanischen Staaten, die derzeitigen Zölle in Zukunft anzuheben und damit bislang bestehende Spielräume im Rahmen der WTO-Regeln zu nutzen. Für Milchpulver liegt der Zollsatz zum Beispiel in Westafrika aktuell bei nur fünf Prozent. In Zeiten niedriger Weltmarktpreise wäre damit ein Schutz vor der übermächtigen Konkurrenz aus der EU nicht möglich.

Die EU-Kommission verweist außerdem auf ihr „großzügiges“ Angebot, auf Exportsubventionen für Agrarprodukte nach Westafrika zu verzichten. Dabei waren die Exportsubventionen ohnehin bereits auf null zurückgefahren worden. Die Direktzahlungen in Höhe von 40 Milliarden Euro, die ebenfalls eine Dumpingwirkung haben, erhalten die EU-Bauern dagegen weiter.


Agrartreibstoffe

Ein zweiter kritischer Bereich ist die Biokraftstoffpolitik der EU, insbesondere was ihre Auswirkungen durch Landinvestitionen im globalen Süden betrifft. Die EU sieht vor, dass der Anteil erneuerbarer Energien im Verkehrssektor auf sieben Prozent gesteigert wird. Dies bedeutet de facto eine Beimischungsquote für Agro­sprit, die zusammen mit der erheblichen Subventionierung der Biokraftstoffproduktion Landraub in Ländern des Südens vorantreibt. 2013 gestand die Kommis­sion in einem Bericht ein, dass „manche“ problematischen Landinvestitionen in Entwicklungsländern mit Blick auf den EU-Biokraftstoffmarkt getätigt wurden.

Eine Studie des Leibniz-Instituts für Globale und Regionale Studien (GIGA) von 2014 bietet eine realistische Problembeschreibung. Die Autoren verwendeten Daten des Land Matrix Global Observatory. Bei 956 registrierten Landkäufen durch transnationale Investoren wurde knapp ein Viertel der Fläche für Agrotreibstoffe in Beschlag genommen oder für „Flex-Crops“ wie Zuckerrohr, die je nach Marktlage auch in die Nahrungsmittelproduktion wandern können. Der Bericht stellt heraus, dass afrikanische Länder ganz besonders von den Landaufkäufen für Agrotreibstoff betroffen sind. Und die meisten Investoren kommen aus der EU: Fünf EU-Länder – Niederlande, Großbritannien, Frankreich, Italien und Spanien – sind unter den Top-10-Herkunftsländern bei 190 näher untersuchten Investitionen, die ausschließlich auf die Produktion von Agrotreibstoff abzielen. Die Studie benennt erhebliche Risiken: Nur selten stimme die Behauptung, die Inves­titionen würden auf trockenem und marginalem Land erfolgen. Es gebe große Konkurrenz um fruchtbares Land, Zugang zu Wasser und die Nutzung von Infrastrukturen.

Kohärenz in einer so sensiblen Frage wie Landinvestitionen stellt die EU offenbar erst im Nachhinein fest, also nachdem großflächige Landinvestitionen getätigt und Verhältnisse geschaffen wurden. Geboten wäre stattdessen das Vorsorgeprinzip. Doch eine Folgenabschätzung im Voraus findet nicht statt.


Konzernmacht im Einzelhandel

Ein blinder Fleck der EU-Kohärenzanalyse ist die Frage nach den sozialen Standards, Arbeits- und Menschenrechten sowie die Verteilung der Preismargen in globalen Produktketten. Die Konzernmacht im Lebensmittelsektor der EU, und damit der Preisdruck auf Produzenten im Süden, ist enorm. Laut Bundeskartellamt kontrollieren in Deutschland die vier großen Lebensmitteleinzelhändler 85 Prozent des Umsatzes. Eine ähnliche Situation liegt in zehn weiteren EU-Mitgliedsstaaten vor. Dort kontrollieren bis zu sieben große Einzelhandelskonzerne mehr als 70 Prozent des Nahrungsmittelkonsums.

Diese Marktmacht erzeugt nicht nur Preisdruck und führt zu problematischen Arbeitsstandards bei Zulieferern im EU-Raum, sondern zunehmend auch in Ländern des globalen Südens. Verbraucherschutzorganisationen kamen 2013 zu dem Ergebnis, dass von den 25 größten Lebensmitteleinzelhandelskonzernen in der EU nur etwa die Hälfte auf Arbeitsstandards bei Eigenmarken-Produkten achtet, die aus Drittländern stammen. Die Ignoranz der Einzelhandelskonzerne kommt auch darin zum Ausdruck, dass lediglich vier der 25 Konzerne bei Frischobst und Gemüse überhaupt eine Politik des „fairen Einkaufs“ haben. Viele Retailer verlassen sich auf freiwillige Verhaltenskodizes, insbesondere die Business Social Compliance Initiative (BSCI). Doch die Audits von BSCI erfolgen stichpunktartig; nur ein sehr schmales Segment an Frischobst und Gemüse wird oberflächlich geprüft. Viele Untersuchungen zeigen, dass Arbeits- und Menschenrechte in diesen Sektoren massiv verletzt werden.

Diese Beispiele zeigen ein deutliches Manko in der Politikkohärenz der EU. Zwei Kernprobleme sind erkennbar. Zum einen bleibt der Anspruch von entwicklungspolitischer Kohärenz so lange reine Rhetorik, wie die EU keinen ernsthaften Versuch empirischer Nachweise unternimmt. Dazu wären angemessene Indikatorensysteme notwendig sowie eine Analyse in Wirkungsketten.

In Bezug auf ihre Handelspolitik etwa verfügt die EU über ein Indikatorensystem. Darin fungiert die Zahl der abgeschlossenen WPA als Erfolgsindikator für entwicklungspolitische Kohärenz. Erst eine Analyse der Wirkungsketten jedoch würde klären, welche Kohärenz die WPA selbst aufweisen. Notwendig ist eine grundlegende Reform der bisherigen Praxis der Nachhaltigkeitsfolgenabschätzung im Handelsbereich.

Ein zweites Problem besteht darin, dass schon die Grundausrichtung der Politik echte Entwicklungschancen untergräbt. Der Anspruch, entwicklungs­ko­härente Politik zu machen, wird unglaubwürdig, wenn etwa die EU-Kommission den forcierten Anstieg im Export von Milchpulver und Schweinefleisch als Beitrag zur Welternährung feiert oder wenn WPA als entwicklungsfreundliche Maßnahme beschrieben werden.


Benjamin Luig ist Referent für Agrarpolitik und Ernährung bei Misereor.
benjamin.luig@misereor.de

Kerstin Lanje ist ebenfalls Referentin für Agrarpolitik und Ernährung bei Misereor.
kerstin.lanje@misereor.de

Armin Paasch ist Referent für Wirtschaft und Menschenrechte bei Misereor.
armin.paasch@misereor.de