Unsere Sicht
Warum die Welt Wahrheit neu lernen muss

Ich arbeite ehrenamtlich in einem Projekt für benachteiligte Kinder und Jugendliche bei Nairobi. Im April haben E+Z-Autorin Alba Nakuwa und ich für rund 70 junge Menschen zwei Workshops zum Thema Medienbildung und Desinformation durchgeführt. Die Reaktionen und Gedanken dieser Jugendlichen im Alter von 14 bis 20 Jahren decken sich mit vielem, was Medienforschende und -psycholog*innen aus anderen Teilen der Welt berichten.
Waren die Falschmeldungen nah an ihrer eigenen Lebenswelt, konnten die Jugendlichen sie fast immer identifizieren. Wir besprachen etwa einen Post, der fälschlicherweise behauptete, die Überflutungen in Nairobi im vergangenen Jahr hätten nur einen kleinen Teil der Stadt betroffen. Ein Junge identifizierte den Beitrag als falsch, weil er persönlich von den Überschwemmungen betroffen war, obwohl er in einem anderen Stadtteil wohnte.
Übermäßig misstrauisch waren die Jugendlichen bei Informationen über die kenianische Regierung. Auch wahre Meldungen von Medien, die wir zuvor als zuverlässige Quellen herausgearbeitet hatten, kennzeichneten sie als falsch. Das passt zu dem, was die kenianische Fachjuristin Irene Mwendwa im Interview beschreibt: Besonders in Ländern des Globalen Südens herrsche ein tiefes Misstrauen gegenüber Institutionen. Dessen Wurzeln sieht Mwendwa in der historischen Ausbeutung dieser Gesellschaften.
Große Verunsicherung herrschte bei den Jugendlichen im Hinblick auf globale Phänomene und Zusammenhänge. Teilweise spuckten ihre Social-Media-Feeds abenteuerliche Aussagen aus, etwa: „Hinter der Antarktis liegt noch ein Land.“ In anderen Fällen wurde deutlich, dass die virtuellen Fänge der russischen Propagandaarmee vom Westen bis in den Osten des Kontinents reichen: Das junge Staatsoberhaupt Burkina Fasos, Ibrahim Traoré – er regiert das Land seit dem Staatsstreich vor drei Jahren – wird den jungen Menschen als antiwestlicher Held häufig ausgespielt. Memes und Reels feiern ihn dabei für seinen Hass auf Frankreich und den gesamten Westen sowie für Aktionen oder Aussagen, die sich kaum überprüfen lassen.
Viele Jugendliche erkannten, dass Zweifel angebracht sind, ebenso viele aber hielten die Posts für wahr. Das ist wenig verwunderlich: Die Workshop-Teilnehmer*innen stammen aus wirtschaftlich benachteiligten Familien und besuchen hoffnungslos unterfinanzierte öffentliche Schulen ohne Kapazitäten für Medienbildung.
In Finnland herrschen andere Zustände, wie uns der Erziehungsexperte und ehemalige Schulleiter Kari Kivinen berichtet. Kinder lernen dort bereits im Kindergarten, dass Desinformationen Lügen sind, Misinformationen Fehler und Fehlinformationen Tratsch.
Menschen in jedem Alter müssen in die Lage versetzt werden, zu verstehen, mit welchen Informationen sie es zu tun haben. Autokratische Regime auf der ganzen Welt verdanken ihren Aufschwung teilweise dem bewussten Einsatz aller Arten von Fehlinformationen. Sie haben ein Interesse daran, dass Wahrheiten verdreht oder nicht erkannt werden. Mithilfe von Künstlicher Intelligenz sind sie damit erfolgreicher denn je.
Katharina Wilhelm Otieno ist Redakteurin bei E+Z und arbeitet zeitweise in Nairobi.
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