Altersversorgung

Von der eisernen Schüssel zum Kümmer-Gesetz

China wird alt, bevor es reich geworden ist. Schuld daran ist nicht zuletzt die Ein-Kind-Politik. Ihretwegen ist der demografische Absturz im bevölkerungsreichsten Land der Welt unabwendbar. Die Altersvorsorge kommt für Millionen Menschen zu spät.
Die Ein-Kind-Familie war in China jahrzehntelang die Norm. Familie in Wuhan im Jahr 2006. kd Die Ein-Kind-Familie war in China jahrzehntelang die Norm. Familie in Wuhan im Jahr 2006.

Mit 55 Jahren ab in die Rente – in China ist das für Frauen im öffentlichen Dienst möglich. Fabrikarbeiterinnen können sogar schon mit 50 in den Ruhestand gehen, Männer mit 60. Das zumindest ist die offizielle Regelung. Klingt nach traumhaften Verhältnissen – die Realität sieht jedoch alles andere als rosig aus.

Mehr als drei Viertel der über 60-Jährigen erhält nicht einmal ansatzweise genug, um davon leben zu können. Das betrifft vor allem Menschen auf dem Land. Aber auch die Arbeitnehmer in den Städten, die derzeit mit 50, 55 oder 60 Jahren Anspruch auf eine staatliche Rente haben, können sich derer schon bald nicht mehr sicher sein. Die Anhebung des Rentenalters auf einheitlich 65 Jahre steht unmittelbar bevor. Sie ist eine der Maßnahmen der Regierung, um eines gigantischen Problems Herr zu werden: China altert, bevor es reich geworden ist.

Vor allem die Geschwindigkeit der Überalterung stellt das Land vor immense Probleme. 2004 betrug der Anteil der Über-60-jährigen an der Bevölkerung neun Prozent. 2017 machten sie bereits 16 Prozent aus. Die Regierung schätzt, dass sich ihr Anteil bis 2050 auf fast 40 Prozent erhöhen wird.

Ein Grund ist die gestiegene Lebenserwartung. Sie liegt derzeit bei durchschnittlich 72 Jahren und dürfte aufgrund der besseren medizinischen Versorgung weiter ansteigen. Sehr viel schwerer wiegt aber die Familienpolitik: Mehr als 35 Jahre lang hatte die chinesische Führung die Ein-Kind-Politik betrieben. Selbst westliche Demografie-Experten haben sie lange Zeit gutgeheißen, in den kommenden Jahren wird sie sich aber als Katastrophe herausstellen.

„Ein Kind – und Ihr werdet glücklich“ lautete die Parole, die in Kinderliedern besungen und in Fernsehspots beworben wurde. Damit versuchte die chinesische Führung seit 1979 das Bevölkerungswachstum zu kontrollieren. Es blieb allerdings nicht bei Parolen: Wer ein zweites Mal schwanger wurde, musste mit drakonischen Strafen rechnen. Millionen Frauen mussten abtreiben, junge Männer wurden zwangssterilisiert, trotz allem zur Welt gebrachte Zweitgeborene hatten keinen Anspruch auf Kindergarten- und Schulplätze.

So rabiat die kommunistische Führung vorging – ihre Sorge wirkte Ende der 1970er Jahre berechtigt: Von 1949 bis 1979 hatte sich die Bevölkerung auf knapp eine Milliarde Menschen fast verdoppelt. Für das Riesenreich mit seiner damals noch völlig unterentwickelten Wirtschaft und Infrastruktur schien das eine kaum zu stemmende Herausforderung. Die Geburtenrate fiel abrupt von durchschnittlich acht Kindern in den Sechzigerjahren auf ein Kind pro Frau. Die kommunistische Führung brüstete sich damit, auf diese Weise 400 Millionen Menschen verhindert zu haben.

Die negativen Auswirkungen auf Wirtschaft, Gesellschaft und Sozialsysteme kommen nun zum Tragen. Seit 2011 geht die Zahl der Einwohner im arbeitsfähigen Alter drastisch zurück, während gleichzeitig immer mehr Rentner versorgt werden müssen. Diese Entwicklung wird sich fortsetzen. Bereits 2030 wird die Volksrepublik mehr Rentner als Kinder und Jugendliche unter 15 Jahre haben. Mitte des Jahrhunderts wird dann jeder dritte Chinese älter als 60 Jahre sein. Schon heute kommen in der staatlichen Rentenversicherung nur noch drei Beitragszahler auf einen Rentenempfänger.

Dabei hat China überhaupt erst in den vergangenen zehn Jahren damit begonnen, eine gesetzliche Altersversorgung zu schaffen, von der Rentner auch wirklich leben können. Bis in die Siebzigerjahre unter dem kommunistischen Führer Mao Tse-tung war die Bevölkerung in zwei Gruppen unterteilt: Für die städtische Bevölkerung galt das Prinzip der „Eisernen Schüssel“. Sie hatte Anspruch auf einen Arbeitsplatz, Wohnung und Essensmarken. Mit einem Monatslohn von unter 50 Euro war für sie vom Kindergarten bis zum Rentenalter planwirtschaftlich alles bis ins Detail geregelt. Die Städter machten aber gerade mal ein Zehntel der Bevölkerung aus. 90 Prozent der Chinesen lebten auf dem Land.

Diese wiederum bekamen Parzellen zugeteilt. Von den Bauern wurde erwartet, dass sie sich weitgehend selbst ernährten. Überschüsse konnten sie an die städtische Bevölkerung verkaufen. Die meisten aber lebten von Subsistenzlandwirtschaft. Die Altersversorgung war ausschließlich Angelegenheit der Familie. Für die Menschen auf dem Land galt daher: Je mehr Kinder sie hatten, desto besser fühlten sich die Eltern fürs Alter abgesichert.

An dieser Zweiteilung änderte sich auch in den ersten Jahren der Wirtschaftsreformen zu Beginn der achtziger Jahre kaum etwas. Die Führung fand es zunächst wichtiger, hohes Wirtschaftswachstum zu generieren. Viele Chinesen zogen vom Land in die Städte und Küstenregionen und waren froh, in den neu entstandenen Industriezentren Geld zu verdienen und es zu einem bescheidenen Wohlstand zu bringen. Das wenige Geld, das sie im Monat vom Lohn zurücklegen konnten, schickten sie den Angehörigen aufs Land. An ein flächendeckendes Sozialversicherungssystem war nicht zu denken.

Doch mit der Einführung der Ein-Kind-Politik funktionierte für die Menschen vom Land die traditionelle Art der Altersvorsorge nicht mehr. Ein junges Ehepaar hatte nun vier Eltern und bis zu acht Großeltern zu versorgen. Hinzu kam, dass nach traditioneller Vorstellung Frauen nach einer Heirat die Eltern des Mannes bei der Altersversorgung zu unterstützen hatten und nicht die eigenen. War das einzige Kind weiblich, hatten die Eltern und Großeltern im Alter niemanden, der sich um sie kümmerte. Jungs zählten denn auch mehr als Mädchen, und viele Mädchen wurden abgetrieben. Das führte wiederum zu einem erheblichen Männerüberschuss.

Viele Jahre konzentrierte sich der Aufbau des Rentensystems auf die Menschen in den Städten. Ein umlagebasiertes Rentensystem gab es bis in die neunziger Jahre zunächst aber nur für Staatsbedienstete und Parteimitglieder sowie Arbeiter und Angestellte der Staatsbetriebe. Privatunternehmen sah die kommunistische Volksrepublik nicht vor.

Mit der wirtschaftlichen Liberalisierung in den Achtzigerjahren änderte sich das, als junge Männer und Frauen vom Land zu Millionen als sogenannte Wanderarbeiter in die Städte strömten, um in den Fabriken zu arbeiten oder einen Job im Dienstleistungsbereich zu bekommen. Für diese Menschen sah der Staat lange gar keine Vorsorge vor. Sie waren aus Sicht der Führung offiziell weiter Bauern, die ihre Parzellen beackern konnten. Diese Wanderarbeiter machten aber rasch mehrere Hundertmillionen aus, ab den Neunzigerjahren gar mehr als die Hälfte der Bevölkerung.

Inzwischen hat ein Umdenken stattgefunden. Die Regierung hat ein Rentensystem für Angestellte in der Privatwirtschaft geschaffen. Demnach zahlen Arbeitgeber und Arbeitnehmer zu gleichen Anteilen Beiträge in einen Sozialfonds ein, der die Angestellten gegen Erwerbsunfähigkeit und Arbeitslosigkeit absichert und ihnen eine Grundrente garantiert. Es handelt sich um ein zum Teil kapitalgedecktes System, der andere Teil kommt vom Staat. Das ist die Theorie.

In der Praxis bleibt vor allem die Lage der Wanderarbeiter prekär. Ihre Löhne sind in den letzten Jahren zwar kräftig gestiegen, eine ausreichende Altersversorgung bieten ihnen die meisten Unternehmen aber trotz staatlicher Vorgaben auch weiterhin nicht. Inzwischen kommt es daher regelmäßig zu Streiks in den Fabriken.

Prekär ist es weiterhin auch für die Menschen auf dem Land. Zwar hat die Regierung versprochen, ihre Verhältnisse denen der Menschen in den Städten anzupassen. Doch das sogenannte neue ländliche Rentensystem ist freiwillig. Wegen der geringen Verdienste der Bauern sei dieses System nicht mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein, urteilt der am Pekinger Institut für Technologie lehrende Ökonom Hu Xingdou. „Ihnen bleibt nichts anderes übrig, als so lange zu arbeiten, wie es geht, und im hohen Alter auf die Angehörigen zu setzen, wie es schon im Mittelalter in China der Fall war.“

Um das Problem zumindest ein Stück weit zu lindern, hat die Regierung vor fünf Jahren die Ein-Kind-Politik durch eine Zwei-Kind-Politik ersetzt und inzwischen die Geburtenkontrolle komplett aufgehoben. Doch dieses Umsteuern in der Familienpolitik kommt viel zu spät. „Der demografische Absturz wird nicht mehr zu stoppen sein“, sagt Ökonom Hu. Er finde längst statt.

Tatsächlich häufen sich in Chinas sozialen Medien Berichte über alte Menschen, die völlig verwahrlost in ihren Wohnungen oder auf der Straße aufgefunden wurden. Die Angehörigen hatten sich nicht ausreichend um sie gekümmert. Die Regierung hat daraufhin ein Gesetz zum „Schutz der Rechte und Interessen älterer Menschen“ verabschiedet. Es schreibt fest, dass alle Über-60-jährigen Anspruch auf regelmäßigen Kontakt mit Verwandten haben. Nicht nur können die Senioren ihren Lebensunterhalt von ihren Angehörigen vor Gericht einklagen. Diese sind auch verpflichtet, ihre Eltern und Großeltern regelmäßig zu besuchen. Wie oft, legt das Gesetz nicht genau fest. Staatszeitungen schreiben jedoch von „alle zwei Monate“.


Felix Lee arbeitet für die tageszeitung (taz) und war bis 2019 ihr Chinakorrespondent.
flee@taz.de

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