Entwicklungspolitik

Forschende wollen echte Zusammenarbeit statt Paternalismus

Welche Zukunft hat die Entwicklungspolitik angesichts der Pandemie, der Klimakrise und der weltweiten militärischen Auseinandersetzungen? Dies war die Kernfrage, die sich das Seminar für Ländliche Entwicklung (SLE) der Humboldt-Universität zu Berlin anlässlich seines 60-jährigen Bestehens stellte. SLE-Leitung und Absolvierende waren sich mehrheitlich einig, dass es eine neue Art der Zusammenarbeit braucht, um die vielen Krisen bewältigen zu können.
Immer in Bewegung und offen für Veränderungen: SLE-Teamkurs. SLE Immer in Bewegung und offen für Veränderungen: SLE-Teamkurs.

Die Entwicklungszusammenarbeit (EZ) muss sich verändern. Darüber sind sich alle SLE-Mitarbeitenden einig und fassten ihre Ideen dazu in einer Transformationsagenda zusammen. Sie sind übereingekommen, dass es eine neue Haltung zur EZ braucht, die Folgendes beinhaltet:

  • EZ muss als Wahrnehmung von Verantwortung verstanden werden: „Die wichtigste Haltung einer transformativen EZ wäre unseres Erachtens seine Paternalismusfreiheit.“ Das heißt, die bereitgestellten Mittel sollten nicht als „Hilfe“ verstanden werden, sondern als „Reparationen“ für die Übernutzung der Human- und Naturressourcen, womit der globale Norden seinen Wohlstand aufgebaut hat.
  • „Echte Zusammenarbeit“ auf „gleicher Augenhöhe“ praktizieren: Das heißt, die Zusammenarbeit sollte nicht auf Konditionalitäten beruhen, sondern die Partnerinnen und Partner sollten – wie teils schon Praxis – gemeinsame Ergebnisse vereinbaren.
  • Aneignung und Weitergabe von Transformationswissen: Für eine transformative Entwicklung müssen wir gewohnte Denk- und Technologiepfade verlassen. Wir müssen Vorgehensweisen und Maßnahmen entwerfen, wie die Transformation zu ökologischer und nachhaltiger Entwicklung erfolgreich gelingen kann. Diese Maßnahmen sollten als Mehrgewinnstrategien funktionieren, bei denen eine Krise nicht gegen die andere aufgewogen wird, sondern, im Gegenteil, mehrere Ziele gleichzeitig erreicht werden können. Dies sollte immer in gegenseitigem Voneinanderlernen zwischen globalem Norden und Süden geschehen.

Das SLE hat seine Ausbildung, das Postgraduiertenprogramm „Internationale Zusammenarbeit für nachhaltige Entwicklung“, erneuert und für sich drei Transformationsbereiche identifiziert: (1.) Ökosysteme und Ernährung, (2.) Sozialökologisches Wirtschaften und (3.) Governance und Teilhabe. Beim ersten Punkt Ökosysteme und Ernährung muss nach Ansicht der SLE-Wissenschaftlerinnen und -Wissenschaftler die zunehmende Ressourcenkonkurrenz überwunden werden.

Dazu müssen in der Landnutzung die unterschiedlichen Ziele wie Erhalt der Artenvielfalt, Klimaschutz und Ernährungssicherung integriert werden. In der Landwirtschaft sollen multifunktionale Systeme umgesetzt werden; Beispiele sind Agroforstwirtschaft und Agrophotovoltaiksysteme. Um Chemikalien zu ersetzen, können diese Systeme ökologisch intensiviert werden, indem die Ökosystemleistungen der Natur systematisch erhöht werden (etwa durch Selbstregulationsprozesse, Nützlinge, Eiweißpflanzenstrategie). Auch die „Schließung von Nährstoffkreisläufen“ ist eine Strategie. Dabei entsteht kein überschüssiges Nitrat, es gelangen aber dennoch genügend Nährstoffe in den Boden. Zusätzlich muss auch der ökologische Landbau verbessert werden; das SLE wird an entsprechenden agrarökologischen Konzepten forschen.

Zum Transformationsziel sozialökologisches Wirtschaften strebt das SLE eine gerechte Verteilung der Ressourcen, insbesondere zwischen reicheren und ärmeren Staaten, aber auch innerhalb der Gesellschaften an sowie die konsequente Inklusion benachteiligter Gruppen. Auch die auf Wachstum angelegte Wirtschaft steht auf dem Prüfstand, und es gilt hierfür neue Konzepte zu entwickeln. Das SLE stellt dabei die Frage, ob grünes Wachstum möglich ist und wie grüne Innovationen adäquat gefördert werden können.

Bei der Transformation von Governance und Teilhabe konzentriert man sich im SLE vor allem auf den ländlichen Raum. Dort existieren oft nur schwache politische Systeme, Strukturen und Institutionen – es bedarf daher einer „Good Rural Governance“. Diese müsse die Teilhabe und die Chancengleichheit der Menschen auf dem Land ermöglichen und Kooperationen und Netzwerke untereinander und mit städtischen Räumen fördern. Ziel ist es außerdem, eine neue Balance zwischen Land und Stadt zu erreichen, so dass ländliche Räume entwickelt und zur Nahrungsversorgung der Städte wesentlich beitragen können.

Diese Überlegungen wurden in mehreren Workshops zu verschiedenen Unterthemen ergänzt, in denen SLE-Alumni sowie andere EZ-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeiter ihre Ideen einbrachten. Der Trainer des SLE für Entwicklungspolitik und Antirassismus Boniface Mabanza Bambu gibt zu bedenken, dass EZ immer noch auf kolonialen Narrativen basiert. Die Idee des „Andersseins“ von afrikanischen oder lateinamerikanischen Menschen und Gesellschaften und ihre Einschätzung als „unterentwickelt“ oder „undemokratisch“ könnten zu Feindbildern führen.

Er kritisiert auch, dass EZ von „westlichen Konzepten“ und „Entwicklungsexpertisen“ dominiert ist. Dies wertet anderes Wissen oft als „marginal“ oder „utopisch“ ab. Er spricht sich für eine kritische (Selbst-)Dekonstruktion der EZ aus. Dazu gehöre, dass sie Möglichkeiten finden muss, wie marginalisierte Gruppen für sich selbst sprechen können, anstatt dass das jemand für sie tut. Die Armen müssten Hauptgestalter ihres Schicksals werden.

All diese Ideen will das SLE aufnehmen und in seine Ausbildung sowie in die Forschung einfließen lassen. Dies erfordert viel Anstrengung. SLE-Direktorin Susanne Neubert resümiert: „Wir alle müssen uns entwickeln.“


Sabine Balk ist Redakteurin von E+Z Entwicklung und Zusammenarbeit /D+C Development and Cooperation.
euz.editor@dandc.eu

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