Statistik

„Wo wir als Nation stehen“

2008 fand in Liberia erstmals nach 24 Jahren eine Volkszählung statt. Die Durchführung war schwierig, hat sich aber gelohnt, wie ein Spitzenbeamter aus dem Ministerium für Planung und Wirtschaft im Interview erläutert.


[ Interview mit Sebastian Muah ]

Auf welcher Basis haben Sie 2008 die Volkszählung in Liberia organisiert?
Volkszählungen dienen dazu, genau zu beziffern, wie viele Menschen an welchem Ort leben. Als wir den Zensus in Liberia durchführten, hatte unser Land mehr als 14 Jahre des Konflikts hinter sich. Wir standen vor vielen Problemen, unsere Ausrüs­tung war mangelhaft, das Personal nicht gut qualifiziert. Je schlechter Verkehrsverbindungen sind, umso schwerer ist es auch, Daten zu erheben. Wir standen vor vielen ungelösten Problemen. Häufig gab es vor Ort kein einziges funktionierendes Amt. Unsere Mitarbeiter mussten eigenständig beurteilen, wer an welchem Ort wohnte. Wir mussten viel improvisieren.

Bitte schildern Sie ein Beispiel.
Wir hatten keine Kontrolle über die Straßeninfrastruktur. Es gab zwar eine Art Koordination für die Rehabilitierung der wichtigsten Überlandstraßen Liberias, aber in der Regenzeit wurden diese Straßen trotzdem schnell unpassierbar. Deswegen war es sehr schwierig, unsere Arbeit mit anderen Ämtern und Behörden abzustimmen.

Konnten Sie denn auf Daten früherer Zählungen zurückgreifen?
Nein, wir mussten bei null anfangen. In Liberias 160-jähriger Geschichte war die Volkszählung von 2008 erst die vierte überhaupt. Die vorherige hatte 24 Jahre früher stattgefunden, ihre Ergebnisse blieben unveröffentlicht und wurden nie vollständig ausgewertet. Das bot uns keinerlei Grundlage mehr.

Wie haben Sie die Aufgaben gemeistert?
Die Führungsrolle der Regierung war entscheidend, gerade weil beschränkte Mittel immer wieder zu Engpässen führten – und das auch jetzt noch tun. Wir haben die Daten immer noch nicht vollständig ausgewertet. Der Aufwand lohnt sich aber, unsere junge Demokratie braucht selbstverständlich zuverlässige Statistiken über Wirtschaft und Gesellschaft. Es war nicht leicht, alle nötigen Ressourcen zu mobilisieren, aber das nächste Mal wird alles einfacher sein. Wir werden dann auf Erfahrung aufbauen. Außerdem werden die Kapazitäten von LISGIS, dem Liberia Institute for Statistics and Geo-Information Services, und anderen Behörden im Rahmen der nationalen Strategie für die Entwicklung von Statistiken gestärkt.

Hatten die Ergebnisse der Volkszählung auch politische Konsequenzen?
Ja, sie hat zu Veränderungen geführt. Vorläufige Ergebnisse des Zensus sind zum Beispiel in Liberias Poverty Reduction Strategy Paper eingeflossen. Die Zahlen wirken sich zunehmend auf politische Entscheidungen aus. Ein spannendes Thema ist der Zuschnitt von Wahlkreisen, es geht also sogar um Fragen von Verfassungsrang. Die Volkszählung ergab, dass unser Parlament die Bevölkerung nicht angemessen widerspiegelt. In einigen Wahlkreisen wohnen sehr viele Menschen, in anderen nur wenige. Jetzt wissen wir, dass die Grenzen neu abgesteckt werden müssen. Bei der Vorbereitung der Wahlen, die im nächsten Jahr stattfinden, greift die National Elections Commission auf Zensusdaten zurück.

Gab es Folgen in der Wirtschaftspolitik?
Ja, wertvolle Ergebnisse des Zensus wurden für eine Studie verwendet, die zur Definition von „wirtschaftlichen Korridoren“ geführt hat. An diesen Korridoren setzt die Wachstumsstrategie der Regierung an, sie sind für die nationale Zukunft wichtig. Mit Hilfe von Zensusdaten entwickelt das Ministerium für Planung und Wirtschaft auch das Instrumentarium für das Poverty Social Impact Assessment. Das Ministerium hat inzwischen auch lokale Entwicklungspläne in Angriff genommen, und dabei sind die Volkszählungsdaten ebenfalls wertvoll.

Wer nutzt diese Daten sonst noch – und wofür?
Jetzt muss ich doch betonen, dass die genannten Anwendungsbeispiele alle nur auf den Einwohnerzahlen beruhen. Vollständig werden wir die anderen Daten erst gegen Jahresende ausgewertet haben. Wir werden sicherlich noch wichtige Einsichten gewinnen. Wir werden sehr viel genauer verstehen, wo wir als Nation stehen. Bis wir so weit sind, müssen die meisten Behörden und Ämter ohne umfassende Statistiken auskommen, sie sind einfach nicht in der Lage, alle Daten selbst auszuwerten. Bisher haben wir nur die Bevölkerungszahlen veröffentlicht.

Auf welche Datenbasis hat sich die Regierung vor dem Zensus gestützt?
Diverse Umfragen hatten empirische Zahlen geliefert. Es gab Studien wie den Demographic and Health Survey, den Core Welfare Indicator Questionnaire oder das Population Poverty Assessment. Hinzu kamen unabhängige Einzelstudien verschiedener Organisationen und Einrichtungen. Der Nachteil war, dass diese Studien nicht repräsentativ sein konnten. Wer zuverlässige Stichproben ziehen will, muss die Größe der Gesamtbevölkerung kennen. Wer das nicht tun, rät eher „Pi mal Daumen“.

Liberia befindet sich im Wiederaufbau nach dem Krieg. Hat die Volkszählung Traumata berührt?
An Grausamkeiten während des Konflikts erinnerte der Zensus nicht direkt. Zum Zeitpunkt der Volkszählung war Liberias Wahrheits- und Versöhnungskommission bereits aktiv. Deshalb haben wir keine Fragen gestellt, die sich direkt auf den Krieg bezogen hätten. Aber selbstverständlich spiegeln unsere Daten Kriegsfolgen wider. Wir haben jetzt Daten zur Größe von Haushalten und zur allgemeinen Mobilität. Auf dieser Grundlage werden wir besser verstehen, welche Folgen der Krieg hatte und warum Menschen von einem Ort zum anderen gezogen sind. Wir haben auch Daten über Waisenkinder und das Geschlecht von Haushaltsoberhäuptern. Die Analyse wird uns auch über das Ausmaß der Traumata etwas verraten.

Welche Rolle haben internationale Geber und Organisationen gespielt?
Ohne die Partner wäre unsere Regierung nicht imstande gewesen, diese Volkszählung zu planen und durchzuführen. Es gab Arbeitsgruppen. Die Entwick­lungspartner der Regierung spielten unter anderem eine wichtige Rolle bei der Formulierung der Fragebögen. Sie leisteten technische Hilfe und stellten Fachleute zur Verfügung, die unsere Kapazitäten ergänzten. Angesichts der schwierigen Bedingungen, unter denen wir arbeiten mussten, wäre es aber gut gewesen, wenn eine technische Arbeitsgruppe der Entwicklungspartner uns über den gesamten Prozess – einschließlich der abschließenden Datenanalyse –begleitet hätte.

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