HIV/AIDS

Die Chance nutzen

Bis 2010 werden etwa 16 Millionen Kinder in Subsahara-Afrika mindestens ein Elternteil durch AIDS verloren haben. Viele von ihnen werden auf sich allein gestellt sein. Staats- und Regierungschefs weltweit haben zwar versprochen, den AIDS-Waisen, ihren Familien und Dorfgemeinschaften zu helfen. Aber bislang sind diese Versprechen nicht verwirklicht. Deutschland sollte als treibende Kraft dafür sorgen, dass sich das ändert.

[ Von Stefan Germann und Kurt Bangert ]

Richard Horton (2006) fragte kürzlich in der medizinischen Fachzeitschrift The Lancet, warum nach 25 Jahren AIDS den betroffenen Kindern immer noch so wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird. Es gibt tatsächlich gute Gründe für Frust und Enttäuschung. Bislang hat die internationale Gemeinschaft sich viel Zeit gelassen mit der Umsetzung ihrer Versprechen, die sie 2001 auf der Sondersitzung der UN-Vollversammlung (UNGASS) zur HIV/AIDS-Problematik gegeben hat. Offenbar sind die Regierungen sich nicht im Klaren darüber, was die hohe Zahl der Waisen langfristig für die betroffenen Gesellschaften und für die Wirtschaft bedeutet. Das gilt leider sowohl für die Geber als auch für die von der Pandemie betroffenen Länder.

Durch HIV/AIDS sind schon heute viele Kinder großem Leid ausgesetzt. Für diese Krise gibt es keine einfache Lösung. Aber noch immer engagieren sich in dieser Sache vor allem nichtstaatliche Organisationen und Basisinitiativen. Es scheint fast so, Regierungen und internationale Entwicklungsorganisationen seien der Meinung, dies müsse ausreichen.

Auch wenn einige Länder mittlerweile politische Strategien für Waisen und gefährdete Kinder verabschiedet haben, muss dringend mehr unternommen werden. Nach Meinung von Steven Lewis, dem UN-Sonderbotschafter für AIDS in Afrika, ist das bisherige Engagement in den meisten Ländern in Schwarzafrika „wenig wirksam, bruchstückhaft und, gemessen an den Erfordernissen dieser vermeidbaren Tragödie, beschämend gering“.

Im Juni 2001 verabschiedete die UN-Vollversammlung eine Deklaration, in der sich die UN-Mitglieder zu bestimmten Schritten gegen HIV/AIDS verpflichteten (UN 2001). Die Artikel 65, 66 und 67 dieser Deklaration betreffen Kinder. Artikel 65 fordert, bis 2003 auf Länderebene Maßnahmen auszuarbeiten und bis 2005 umzusetzen, um Regierungen, Familien und Kommunen dabei zu unterstützen, ein für verwaiste und gefährdete Kinder sowie für HIV-infizierte Jungen und Mädchen förderliches Umfeld zu schaffen. Als vordringlich genannt werden unter anderem Schulbesuch, Unterbringung und gute Ernährung. Des Weiteren sollen die betroffenen Kinder vor Gewalt, Ausbeutung und anderer Diskriminierung geschützt werden. Artikel 66 wiederum betont die Menschenrechte von Kindern und fordert wirksame Vorkehrungen gegen Stigmatisierung. Artikel 67 ruft die Geberländer, die internationale Zivilgesellschaft und den Privatsektor dazu auf, Afrika zu unterstützen.

Leider sind diese Ziele immer noch nicht erreicht; viel zu wenig wurde bisher getan (Foster, 2005). Von 2000 bis 2004 haben UNICEF und UNAIDS maßgebliche Akteure darin unterstützt, einen Handlungsrahmen zum Schutz und zur Förderung von AIDS-Waisen und gefährdeten Kindern auszuarbeiten (Framework for the protection, care and support of orphans and vulnerable children living in a world with HIV and AIDS, 2004). Grundlage ist die Kinderrechtskonvention, die unter anderem folgende Leitprinzipien enthält:
das Recht des Kindes auf Leben, Wohlergehen und Entwicklung;
das Recht auf Gleichbehandlung;
die Orientierung am Wohl des Kindes;
die Mitsprache der Kinder an allen sie betreffenden Angelegenheiten.

Entsprechend betont der Handlungsrahmen fünf Schlüsselstrategien für den Umgang mit der HIV/AIDS-Krise:
Familien dazu befähigen, Waisen und gefährdete Kinder zu schützen und zu versorgen, indem die Lebenserwartung der Eltern erhöht sowie wirtschaftliche, psychosoziale und sonstige Unterstützung geleistet wird;
das Engagement lokaler Gemeinschaften fördern;
Waisen und gefährdeten Kindern Zugang zu wichtigen sozialen Dienstleistungen gewähren, unter anderem zu Bildung und Gesundheit;
sicherstellen, dass Regierungen besonders gefährdete Kinder rechtlich und politisch schützen und die Familien unterstützen;
durch Bewusstseinsarbeit und gesellschaftliche Mobilisierung ein unterstützendes Umfeld für betroffene Kinder und Familien schaffen.

Darüber hinaus betont der Handlungsrahmen, dass der Fokus nicht nur auf HIV/ AIDS-Waisen liegen sollte. Vielmehr verdienen besonders gefährdete Kinder und Gemeinschaften ebenfalls besondere Aufmerksamkeit. Zudem ist die Berücksichtigung lokaler Bedürfnisse, Traditionen und Prioritäten Vorausetzung für den Erfolg. Partizipation, vor allem von Kindern und Jugendlichen, kann dazu beitragen. Auch die Geschlechterdiskriminierung muss angegangen werden. Alle Aktivitäten zur Versorgung und Unterstützung sollten zudem an AIDS-Präventionsmaßnahmen gekoppelt werden. Externe Unterstützung muss lokale Kapazitäten und Initiativen stärken, anstatt sie zu unterlaufen.

Es ist bedrückend, dass nach 25 Jahren Erfahrung mit HIV/AIDS diese Prinzipien immer noch ständig wiederholt werden müssen. Schlimm ist auch, dass die Krankheit nach wie vor viel zu oft von einer Generation auf die nächste übertragen wird. Überdies fehlen für den weltweiten Kampf gegen HIV/AIDS acht Milliarden Dollar. All die großen Versprechen müssen endlich erfüllt werden, denn die Zahl der Betroffenen wächst schnell. Es sieht allerdings nicht so aus, als seien alle Geberländer tatsächlich willens, das versprochene Geld bereitzustellen.

Zeit, zu handeln

Lob gebührt der irischen Regierung. Irish Aid hat vor kurzem die Mittel für HIV/AIDS-Projekte aufgestockt und veranlasst, dass mindestens 20 Prozent davon Waisen und anderen durch die Pandemie gefährdeten Kindern zugutekommen.

Von Desmond Tutu, dem emeritierten Erzbischof von Kapstadt und Friedensnobelpreisträger, war kürzlich in einer deutschen Zeitung Folgendes zu lesen: „Deutschland als Weltmacht sollte Führung beweisen bei der Umsetzung der Versprechen von EU und G8.“ Unter der Leitung von Kanzlerin Angela Merkel sollte die Bundesregierung folgende Schritte unternehmen:
dem erwähnten Handlungsrahmen zum Schutz und zur Förderung von AIDS-Waisen und gefährdeten Kindern offiziell zustimmen;
dem Kampf gegen HIV/AIDS politische Priorität einräumen, nicht nur im Entwicklungsministerium, sondern auch in anderen Bundesministerien;
ab diesem Jahr mindestens 700 Millionen Dollar jährlich für den Kampf gegen HIV/AIDS beisteuern; davon sollten mindestens 12 Prozent an Waisen und gefährdete Kinder gehen (wie vom deutschen „Aktionsbündnis gegen AIDS“ gefordert);
regelmäßig überprüfen, inwieweit Deutschland seinen Zusagen nachkommt, die es auf der AIDS-Sondersitzung der UN-Vollversammlung gegeben hat.

Die Europäische Union wiederum sollte ihren Beitrag zum Globalen Fonds zur Bekämpfung von AIDS, Malaria und Tuberkulose auf mindestens 50 Prozent des Betrags erhöhen, der für den Kampf gegen HIV/AIDS weltweit benötigt wird; dadurch würde sie ihrer Rolle als weltweit wichtigster Geldgeber gerecht. Die Europäische Kommission sollte einen Zeitplan für zusätzliches Geld aushandeln, um die EU-Zielvorgabe zu erfüllen, bis 2010 die Entwicklungshilfe (ODA) auf 0,51 Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu steigern. Die zusätzlichen Mittel sollten in erster Linie im Kampf gegen HIV/AIDS eingesetzt werden, unter anderem für den universellen Zugang zu Präventions-, Versorgungs- und Behandlungsmaßnahmen sowie für Primarschulbildung für Waisen und gefährdete Kinder.

Zu guter Letzt sollte die G8 unter Führung von Kanzlerin Merkel
– ihre finanziellen Zusagen vom G8-Gipfel in Gleneagles einlösen;
– das Märchen nicht weiter verbreiten, dass neue Mittel von den Empfängern nicht absorbiert werden können;
– sicherstellen, dass alle mit HIV infizierten Menschen und AIDS-Patienten bis zum Jahr 2010 lebensverlängernde Medikamente erhalten, die nicht nur den Patienten selbst helfen würden, sondern auch deren Kindern;
– die Zusagen erhöhen, um auf den von UNAIDS geschätzten erforderlichen Betrag von 22,1 Milliarden US-Dollar im Jahr 2008 zu kommen;
– dafür sorgen, dass von diesem Geld mindestens 12 Prozent Waisen und gefährdeten Kindern zugutekommen.

Bislang tragen vor allem Frauen die HIV/AIDS-Bürde. Sie leiden selbst unter Infektionen, kümmern sich um die Kranken, sorgen für Kinder und Verwandte. Waisen und gefährdete Kinder sind in der Regel auf Unterstützung von Frauen angewiesen. Vielleicht bedarf es der Führungskraft der einzigen Frau an der Spitze eines G8-Staates, Kanzlerin Merkel, damit den Worten der G8 endlich Taten folgen. 2007 hat Deutschland die Chance, als gutes Beispiel voranzugehen. Es sollte diese Chance nutzen.

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