Horn von Afrika

Wer in Äthiopien jetzt zwischen die Fronten geraten ist

Eritreische Flüchtlinge sind in Äthiopiens aktuellem Tigray-Konflikt besonders bedroht. Die Weltgemeinschaft darf nicht wegschauen.
Flüchtlinge aus Tigray im Sudan Anfang Dezember 2020. Nariman El-Mofty/picture-alliance/ASSOCIATED PRESS Flüchtlinge aus Tigray im Sudan Anfang Dezember 2020.

Anfang November begann eine bewaffnete Auseinandersetzung zwischen der äthiopischen Zentralregierung und der Regionalregierung von Tigray. Bis Mitte Dezember waren rund 50 000 Menschen in den Sudan geflohen. Sie berichten vom Leid der Zivilbevölkerung in einer weitgehend intransparenten Lage. Die Zahl der Binnenvertriebenen dürfte eine Million betragen.

Die Lage ist explosiv und hat eine komplizierte Vorgeschichte. Die Tigray People’s Liberation Front (TPLF), welche die Regionalregierung stellt, war eine der stärksten Parteien im Bürgerkrieg, der 1991 mit dem Sturz des Militärherrschers Mengistu Haile Mariam endete und zur Unabhängigkeit Eritreas führte. Seitdem herrscht dort Präsident Isayas Afwerki mit harter Hand – während ein TPLF-dominiertes Bündnis Äthiopien bis 2018 zunehmend autoritär regierte.

In den 1990er Jahren entfremdeten sich Asmara und Addis Abeba schnell. Im äthiopisch-eritreischen Krieg starben von 1998 bis 2000 bis zu 100 000 Menschen. Formaler Frieden wurde erst 2018 geschlossen, als die TPLF angesichts wachsender ethnischer Spannungen in ganz Äthiopien ihre dominante Stellung verloren hatte. Sie hat sich mittlerweile gegen den neuen Premierminister Abiy Ahmed gestellt. Sie lehnt auch Eritreas Regierung weiterhin ab und solidarisiert sich mit eritreischen Flüchtlingen. Brisanterweise gehören die meisten dieser Flüchtlinge zur Volksgruppe der Tigrinya, deren Region in Äthiopien Tigray ist und welche die TPLF zu vertreten beansprucht.

Im aktuellen Konflikt kooperiert Eritrea nun mit der äthiopischen Armee. Es gibt sogar Berichte über Einsätze des eritreischen Militärs in Tigray. Sie sind nicht ausreichend belegt, aber mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit bietet Eritrea äthiopischen Truppen zumindest logistische Unterstützung und Rückzugsmöglichkeiten.

Mittlerweile sind viele eritreische Flüchtlinge auch innerhalb Äthiopiens weitergeflohen. Sie berichten von katastrophalen Verhältnissen in den Lagern in Tigray. Nahrungs- und Hilfslieferungen seien ausgeblieben und die für die Verwaltung Verantwortlichen geflohen.

Die TPLF bezeichnet den gegenwärtigen Konflikt als landesweiten Genozid an den Tigrinya. Die Zentralregierung wiederum macht Tigray-Milizen für ein Massaker in Mai Kadra verantwortlich. Die Opfer dort sind überwiegend Saisonarbeiter aus der benachbarten Amhara-Region gewesen. Dort gibt es indessen auch Lager mit eritreischen Flüchtlingen, und die Zahl der Schutzsuchenden aus Tigray wächst rasant.

Klar ist, dass eritreische Flüchtlinge in Äthiopien schutzlos zwischen die Fronten geraten sind. Die Zentralregierung hat Tigrays Hauptstadt Mek’ele besetzt und Premier Abiy hat den Sieg verkündet. Humanitäre Korridore wurden versprochen und eingerichtet, aber die Armee verwehrt UN-Personal bisher den Zugang zu bestimmten Flüchtlingscamps. Über die Lage dort gibt es keine zuverlässige Information. Unklar war Mitte Dezember zum Beispiel, ob mehrere tausend Eritreer über die Grenze nach Eritrea zurückgebracht oder als Geiseln von der TPLF verschleppt wurden. Das eritreische Regime bezeichnet die Flüchtlinge als Deserteure, die seiner zeitlich unbegrenzten Wehrpflicht entgehen wollen. Die TPLF wiederum versucht offensichtlich, eritreische Flüchtlinge für ihren Kampf zu rekrutieren, wohl auch unter Zwang.

Schon vor Beginn der aktuellen Militäroperationen gab es in Äthiopien zwischen einer und drei Millionen Binnenvertriebene. 2020 lebten in Äthiopien zudem 800 000 internationale Flüchtlinge. Jede weitere Eskalation in Tigray und umliegenden Gebieten würde ohnehin bestehende Probleme weiter verschärfen. Die Weltöffentlichkeit darf nicht wegschauen.


Markus Rudolf ist Senior Researcher am Internationalen Konversionszentrum Bonn (Bonn International Center for Conversion – BICC)
markus.rudolf@bicc.de

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