Ernährungssicherheit

Gegen blinde Produktivität

Hunger ist kein zwingender Auslöser für Bürgerkriege, aber ein Symptom für politische Fehler. Ein wachsender Anteil unterernährter Menschen bedroht die internationale Sicherheit, warnen Experten.

Weltweit hungern zurzeit rund 925 Millionen Menschen, schätzt die FAO. Die UN-Organisation für Nahrung und Landwirtschaft steht inzwischen selbst unter Beschuss: Trotz moderner Agrarindustrie und steigendem Welthandel nehmen Hungersnöte zu – und das zehn Jahre alte UN-Millenniumsziel, den Anteil unterernährter Menschen bis 2015 zu halbieren, ist blanke Theorie geworden. Das Worldwatch Institute geht inzwischen davon aus, dass jeder sechste Mensch auf der Erde unterernährt ist. Laut Worldwatch hungerten 2010 rund 12 Prozent mehr Menschen als im Jahr davor.

Seit Januar 2011 stellen die sozialen Unruhen und Bürgerkriege in Nordafrika auch nichtarabische Politiker vor die Frage: Bedrohen steigende Weltmarktpreise für Benzin, Mais und Getreide letztlich auch Sicherheit und Wohlstand? „Unsere heutige Architektur funktioniert nicht“, meinte dazu jedenfalls der FAO-Referent für Rohstoff und Umwelt, Alexander Müller auf einer Konferenz des Auswärtigen Amtes über „Ernährung in der Krise“.

Zum Hunger in der Welt gesellen sich vor allem ein besorgniserregender Artenschwund und der Klimawandel. Sie alle sind Folgen falscher Landwirtschaft, aber auch des Fleisch- und Energiekonsums reicher Länder. Die Schwierigkeiten verstärken sich gegenseitig: „Die Zahl der Naturkatastrophen hat sich in 20 Jahren vervierfacht“, schildert Ralf Südhoff. Der Leiter des World Food Programme (WFP) in Deutschland, Schweiz und Österreich sagt voraus, „weltweit zwischen 30 und 50 Staaten“ könnten durch Ernährungsunsicherheit destabilisiert werden. Eine mangelhafte Versorgung mit Grundnahrungsmitteln führe nicht automatisch zu Bürgerkriegen und Gewalt, entgegnete die Friedensforscherin Bettina Engels von der Freien Universität Berlin: „Nicht Konflikte sind das Problem, sondern wie sie ausgetragen werden.“ 60 Prozent der zurzeit hungernden Menschen lebten in „stabilen“ Staaten Asiens, betont Engels. Erst im Zusammenspiel mit einer selbstbewussten Mittelschicht, die politische Macht erobert, würden Versorgungsprobleme explosiv. Die Französische Revolution von 1789 sei das beste Beispiel.

Ackerland hat, wie Reis und Brot, nicht nur finanziellen Wert. Tewolde Egziabher, Chef von Äthiopiens Umweltbehörde EPA, bezeichnet die Selbstversorgung von Kleinbauern als universales Menschenrecht: „Obwohl ich an die Erfüllung dieses Grundrechtes nicht mehr glaube, verlange ich den absoluten Schutz jedes Menschen, der seine eigene Nahrung produziert.“ Grundbesitzer müssten anerkennen, dass ihnen kein persönliches Besitzrecht auf die natürliche Lebensgrundlagen anderer zusteht, sagt Egziabher. Jede lokale Gemeinschaft solle außerdem ihre überlieferten Anbaumethoden behalten dürfen.

Monokulturen sieht Egziabher als Hauptursache für den Hunger von morgen – weil sie Ressourcen zerstören, die später kein Dünger oder Genprodukt mehr retten könne. Von einst ungefähr 7000 Feldfrüchten bleiben durch industrielle Landwirtschaft nur noch 150 Basisprodukte, erklärt der Äthiopier. 60 Prozent davon verteilten sich alleine auf Reis, Weizen und Mais. Der Träger des alternativen Nobelpreises (Right Livelihood Award 2000) sieht die internationale Exportwirtschaft in einer Sackgasse, solange

– billige Massenproduktion vorherrscht,
– kein landwirtschaftlicher Fruchtwechsel mehr stattfindet,
– Ackerbau und Viehzucht isoliert betrieben werden und
– unsere Ernährung von immer weniger Grundnahrungsmitteln abhängt.

„Einfach mehr zu produzieren löst das Problem der Unterernährung nicht“, das betonte auch Außenminister Guido Westerwelle. Ernährungssicherheit in Entwicklungsländern sei tatsächlich eine Frage des Friedens, ergänzt er. Denn strukturelle Mängel, die Instabilität im Ausland schaffen, schaden laut Westerwelle auch der Bundesrepublik: „Dass fruchtbare Felder vor der eigenen Haustür liegen, dortige Erzeugnisse aber nur zum Export in reiche Länder bestimmt sind, werden sich die Bürger nicht auf Dauer gefallen lassen.“ Unbegrenzte Spekulation mit Lebensmitteln und der Einfluss „windiger Finanzprodukte“ auf Brotpreise seien ebenso fatal.

„Wir sollten nominalen Produktionsraten weniger Aufmerksamkeit schenken und uns stärker auf einzelne Anbau­methoden und individuelle Lösungen besinnen“, folgert Judy Wakhungu aus ­einer eigenen Fallstudie. Die Chefin des Afrikani­schen Zentrums für Technologieforschung (ACTS) in Nairobi glaubt an keine globalen Patentrezepte. In Berlin zitierte Wakhungu ein Dutzend lokaler Lösungen: „Victoria Seeds Uganda“ helfen Kleinbauern, indem sie 20 Prozent billigeres Saatgut verkaufen, das nicht von Konzernen stammt. In Kenia entwickelte „Kick Start“ Wasserpumpen, die an weibliche Körpermaße angepasst sind, und „Homegrown Company“ verspricht guten Absatz bei Gärtnern aus Großbritannien. In Nigeria fördert der „Solar Light Electric Fund“ die Tröpfchenbewässerung. In Tansania hilft Gruppenbewirtschaftung rund 500 Bauern, Pesti­zide und Dünger zu sparen. Und im südafrikanischen Kapstadt erprobt „Harvest Hope“ zum Beispiel den urbanen Gartenbau.

Peter Hauff

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