Editorial

Fokus auf die Opfer

Die meisten Europäer finden islamistischen Terrorismus verrückt und aus der Zeit gefallen. Tatsächlich glänzen ISIS, Al Kaida, Al Shabaab und Konsorten weder mit rationalen Argumenten noch mit überzeugenden Konzepten oder gar zivilen Errungenschaften. Es ist aber leider so, dass ihr Agieren vielen Menschen auf lokaler Ebene in Afrika und Asien einleuchtet – unter anderem, weil die Gewalttäter alte antikoloniale Attitüden nutzen.
Straßenszene im Iran. emv Straßenszene im Iran.

Als Europas Philosophen die Aufklärung entwarfen, errichteten ihre Länder weltumspannende Kolonialreiche. Die Herrschaftsweise der Imperialisten war repressiv, und sie hielten jede nicht-europäische Kultur für unzivilisiert. Sie gestalteten Kolonialstaaten so, dass sie ihren Interessen, nicht den unterworfenen Völkern dienten. Das Prinzip „teile und herrsche“ wurde angewandt, und oft unterstützten christliche Missionare das Kolonialsystem.

In solchen Verhältnissen gab der Islam Unterdrückten Halt. Sie verbanden ihn mit Ideen von moralisch akzeptabler Herrschaft als Gegenentwurf zum zynischen Verhalten ihrer Machthaber. Als die Muslimbrüder vor fast 90 Jahren in Ägypten entstanden, verknüpften sie religiöse Lehren mit anti-imperialistischer Haltung. Ähnliche Entwicklungen gab es in Südasien – unter Muslimen (siehe Maryam Khan in D+C/E+Z 2015/05, S. 26 ff.) wie Hindus.

Die Partei von Indiens Regierungschef Narendra Modi entstammt einem hindu-chauvinistischen Verbund, der auf einem ähnlichen Mix von Glaube und Antikolonialismus beruht. Der anti-imperialistische Unterton lebt nicht nur in Indien weiter, aber zunehmend geht es nun um Identitätspolitik, die Minderheiten gegen Mehrheiten ausspielt. Auf bizarre Weise fußt die heutige Feindschaft zwischen Pakistan und Indien auf antibritischen Ressentiments der Kolonialzeit. Spannungen zwischen schiitischen und sunnitischen Muslimen sind noch viel älter. All das macht gewalttätige Identitätspolitik nicht akzeptabel; sie ist ohne geschichtlichen Kontext aber nicht zu verstehen.  

Leider können religiöse Extremisten in korrupten und scheiternden Staaten weitverbreitete Frustration über schlechte Amtsführung nutzen. Terroristen behaupten, den Glauben und die Gläubigen zu verteidigen. Unglücklicherweise leuchtet das vielen Menschen ein, weil sie unter Diskriminierung, Marginalisierung, Bürgerkrieg und Militäraktionen leiden. Zugleich zieht der Radikalismus weltweit frustrierte, ausgegrenzte und verwirrte junge Leute an.

Es reicht nicht, auf islamistischen Terror nur mit Polizei und Militär zu reagieren, denn das bestätigt ja deren „Wir gegen die“-Gerede. Wie schon nach der fehlgeleiteten und fehlgeschlagenen Intervention der USA mit ihren Verbündeten im Irak klar wurde, kommt es darauf an, Menschen zu überzeugen und zu gewinnen.

Westliche Regierung wirken diesbezüglich schwach. Sie sollten auf keinen Fall Islamophobie unterstützen, sondern ihren Bürgern sagen, dass die meisten Terroropfer Muslime sind. Es würde einen guten Eindruck machen, Flüchtlinge aus von Gewalt geplagten Weltgegenden großzügig willkommen zu heißen. Zudem braucht der Westen mehr Distanz zu islamistischen Regimen wie dem in Saudi-Arabien, auch wenn diese angeblich Terrorismus bekämpfen (siehe Loay Mudhoon in E+Z/D+C 2014/11, S. 427 ff.). Islamistische Terroristen werden heute ebenso von Abscheu vor Zynismus der Golfmonarchien motiviert wie von der sunnitisch-fundamentalistischen Ideologie, die deren Missionare und Geldgeber seit Jahrzehnten verbreiten.

 

Hans Dembowski ist Chefredakteur von E+Z Entwick­­lung und Zusammenarbeit / D+C Development and Cooperation.
euz.editor@fs-medien.de

Relevante Artikel

Governance

Um die UN-Ziele für nachhaltige Entwicklung zu erreichen, ist gute Regierungsführung nötig – von der lokalen bis zur globalen Ebene.