Fachliteratur

Entscheidendes Wissen

Der wahre Ursprung und Verlauf von Konflikten ist in Krisenländern meist in verschiedenen Narrativen verborgen, hochkomplex und emotional aufgeladen. Der bewusste Umgang mit den eigenen Interpretationen dieser Narrative ist der Schlüssel für dritte Parteien, um zu einem Friedensprozess beizutragen.
Ausländische Hilfskräfte wie hier in Ruanda sollten Land und Leute sehr gut kennen- und verstehen lernen. Lissac/GODONG/Lineair Ausländische Hilfskräfte wie hier in Ruanda sollten Land und Leute sehr gut kennen- und verstehen lernen.

Die Zahl der gewaltvoll ausgetragenen Konflikte war noch nie so hoch wie 2015. Dies belegt ein Blick in internationale Konfliktdatenbanken, die jährlich statistische Daten zu bewaffneten Konflikten veröffentlichen. Die aggregierten Daten dieser Indices zeigen Trends hinsichtlich der Dauer und Themen von Konflikten auf und hinsichtlich der Zahl von Todesopfern, Militärausgaben oder Krankheiten. Diese Barometer genießen aufgrund der statistischen Datenauswertungsverfahren eine hohe Glaubwürdigkeit.

Das schwedische Uppsala Conflict Data Program (UCDP) ist einer der ältesten Indices. Es führt die gestiegene Zahl der Konflikte unter anderem auf die Einmischung nichtstaatlicher Akteure zurück. Außerdem gibt es seiner Einschätzung nach mehr innerstaatliche Konflikte als früher. Im Jahrbuch des Stockholm International Peace Research Institute (SIPRI) werden neben den Ergebnissen des UCDP weitere Daten veröffentlicht. SIPRI identifiziert externe Einmischung in innere Konflikte sowie militärische oder logistische Beteiligung als eine Variable, die den Konfliktverlauf entscheidend zum Schlechteren beeinflusst.

Die hohen Kosten von Kriegen streicht der Global Peace Index hervor, der von dem in Australien und den USA ansässigen Institute for Economics and Peace herausgegeben wird. 2015 habe Gewalt weltweit 14,6 Billionen Dollar gekostet; diese Zahl ist elfmal so hoch wie die der auswärtigen Direktinvestitionen weltweit. Nur zwei Prozent dieser Summe wurden hingegen 2015 für Friedenseinsätze ausgegeben.

Qualitative Daten sind ergänzend ein wichtiger Schlüssel zur Interpretation und Einordnung quantitativer Daten in sensiblen und komplexen Konflikten. Rein statistische Schätzungen etwa hinsichtlich der Anzahl der Opfer sexueller Gewalt in der Demokratischen Republik Kongo sind aufgrund vieler Faktoren sehr schwer. Außerdem ist es aus verschiedenen Gründen schwierig, Gewaltopfer zu befragen – unter anderem, weil bei einigen die Gefahr einer Retraumatisierung besteht. Mithilfe qualitativer Studien können aber zum Beispiel Erklärungsmuster aufgedeckt oder Erkenntnisse über die Wirkung verschiedener Lösungswege gewonnen werden.

Interessant ist die Frage, wie Mitarbeiter ziviler Friedenseinsätze diese Daten nutzen und welches Wissen über die Konflikte die Praktiker für ihren Einsatz in den Krisenländern zugrunde legen. Die Columbia-University-Professorin Séverine Autesserre stellt in einer ethnologischen Studie die These auf, dass in Konfliktländern weltweit ein Kampf um die Wissenshoheit zwischen Einheimischen und Ausländern tobt. Für ihr Buch wertete sie fünf verschiedene Datenquellen und über 600 Interviews aus. Diesem Wettstreit um die Auslegung der Realität in Konfliktländern ist es laut Autes­serre geschuldet, dass ausländische Hilfskräfte teils mit verzerrten Informationen und Fehlannahmen arbeiteten. Ihrer Meinung nach ist es äußerst unsicher, ob westliche Friedensprojekte effektiv sind oder ob die Lokalbevölkerung diese nicht als irrelevant und unglaubwürdig betrachtet.

Die Autorin beschreibt den Alltag von internationalen Einsatzkräften an einem imaginären Ort namens „Peaceland“. Das kann die Demokratische Republik Kongo, Afghanistan, Südsudan, Bosnien oder Burundi sein – überall dort, wo es zivile und militärische Einsatzkräfte gibt, die den Auftrag haben, zum Friedensprozess beizutragen. Autesserre analysiert, wie deren Alltagsrituale, Standards, Werte und Verhalten eine Schleife selbstreferentiellen Wissens erzeugen und zudem den Widerstand der Lokalbevölkerung wecken. Vor Ort gebe es einen Wettstreit zwischen einheimischen Experten „lokalen Wissens“ und internationalen Experten „technischen Wissens“. Die lokalen Experten seien vertraut mit den Orten und Menschen und hätten ein tiefes Verständnis der Geschichte sowie politischer, sozialer und kultureller Dynamiken. Die externen Friedenskräfte hingegen hätten eine genaue Fachkenntnis in Themen wie Konfliktmanagement, humanitäre Hilfe oder Projektmanagement.

Autesserre stellt fest, dass die Lokalbevölkerung internationale Einsätze ablehne, wenn ausländische den lokalen Fachkräften übergeordnet seien und besser bezahlt würden. Ausländische Organisationen legten ihren Gebern gegenüber Rechenschaft ab, aber nur in unzureichendem Maße gegenüber der Lokalbevölkerung. Häufig würden Ausländer in Krisengebieten als arrogante Außenseiter wahrgenommen, die versuchten, den Einheimischen ihre Ideen aufzuzwingen. Dabei gehe es nicht so sehr um die Inhalte, sondern um die Art und Weise, wie kommuniziert werde. Viele ausländische Hilfskräfte seien sich noch dazu der symbolischen Bedeutung ihrer Handlungen nicht bewusst. Das trage in einem von Gewalt gebeutelten Umfeld umso mehr zu Frustration bei. Die Rotation ausländischer Fachkräfte zwischen verschiedenen Einsatzländern führe außerdem zur Entfremdung von ihren Zielgruppen.

Es sei Fachkräften nur schwer möglich, sich ein klares Bild der Gesamtsituation zu schaffen, so Autesserre. Unterschiedliche kulturelle Hintergründe und Ideologien führten zu teils völlig gegensätzlichen Berichten derselben Situation. Da ausländische Fachkräfte die Hauptstädte der Krisenländer selten verließen, wüssten sie nicht, wie Datensammlung im Feld aussehen müsste, geschweige denn seien sie sich bewusst darüber, dass ihre Analysen auf verzerrten Daten beruhen könnten.

Laut Autesserre berichteten lokale Graswurzel-Aktivisten, dass sie ihre Geschichten abänderten, Fehlinformationen lieferten oder kritische Daten versteckten, da sie Außenstehenden misstrauten oder sich und ihre Familie schützen müssten. Dies sei besonders typisch für Konfliktländer, da hier Einschüchterung und Gewaltanwendung zu den üblichen „Problemlösungsstrategien“ zählten (siehe hierzu Artikel "Beim Wort nehmen" in E+Z/D+c e-Paper 2016/12). Etlichen Berichten zufolge seien Daten zudem abgeändert worden, um ausländische Chefs zufrieden zu stellen.

Den ausländischen Helfern seien kulturelle Interpretationscodes oft aufgrund mangelnder Lokalexpertise nicht bekannt – so unterschieden Ruander zum Beispiel öffentliche von privater Wahrheit. Europäer und Nordamerikaner gingen davon aus, das Gegenüber werde ihnen schon sagen, wenn sie etwas Falsches annähmen, aber Burundier fänden es etwa unhöflich, jemandem zu widersprechen.

Viele ausländische Helfer lebten abgeschnitten von der Mehrheit der Bevölkerung und machten deshalb kaum eigene Erfahrungen mit der Realität vor Ort. Da die Mehrheit der ausländischen Friedensorganisationen dieselben Kontaktpersonen zu Rate zögen, werde die Komplexität von Konflikten unterschätzt, so die Autorin. Es falle ausländischen Hilfskräften meist nicht auf, dass sie sich irrten, da sich alle auf dieselben Datenquellen und Referenzen bezögen. Das Netz ausländischer Interventionen in Krisengebieten sei somit ein geschlossenes System der Selbstreferenz. Narrative würden unbewusst daraufhin ausgewählt, wie sehr sie mit den eigenen Glaubenssätzen und Sympathien übereinstimmten.

Die wenigen Ausnahmen ausländischer Hilfskräfte in Friedensgebieten, die effektiver arbeiteten, seien Menschen, die enge, produktive Beziehungen zu Einheimischen pflegten. Beziehungsaufbau, Kommunikation, Freundschaft, gegenseitiges Voneinander-Lernen und Vertrauen seien die wichtigsten Erfolgsfaktoren ausländischer Interventionen. Regelmäßig berichteten Menschen aus Konfliktländern weltweit, dass sie zu Ausländern eine echte Beziehung aufbauen konnten, die Zeit im Feld verbrächten und sich um ein Kennenlernen bemühten. Wichtig sei hierbei deren glaubwürdige, intrinsische Motivation.

Daher rät Autesserre externen Hilfskräften, viele Jahre in ein und demselben Land zu verbringen, die Lokalsprache und Gepflogenheiten zu lernen und sich mit Menschen verschiedenster sozialer Gruppen ihres Gastlandes anzufreunden. Friedensorganisationen sollten ihre Konzepte überdenken und Rekrutierung, Projektdesign und Trainings in diesem Sinne anders konzipieren. Unter diesen Bedingungen könnten auch thematische Expertise und quantitative Daten mit größerer Wirksamkeit genutzt werden und zur Effektivität von Friedensprojekten besser beitragen.


Karoline Caesar war 2011 bis 2015 Beraterin eines Mediationsprojekts des Zivilen Friedensdiensts (ZFD) in Burundi.
karoline.caesar@gmail.com


Links

Institute for Economics and Peace (2016): The Global Peace Index 2016.
http://reliefweb.int/sites/reliefweb.int/files/resources/GPI%202016%20Report_2.pdf

Stockholm International Peace Research Institute (2016): SIPRI Yearbook 2016.
https://www.sipri.org/sites/default/files/YB16-Summary-DEU.pdf

Uppsala Conflict Data Program (2016):
http://www.ucdp.uu.se


Literatur

Autesserre, S., 2014: Peaceland. Conflict resolution and the everyday politics of international intervention. Cambridge University Press NY.
http://www.severineautesserre.com/research/peaceland/
 

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