Fehlkonzipierte Statistik

Indisches Dilemma

Im Auftrag der Regierung in Neu-Delhi hat die Tendulkar-Kommission festgestellt, dass die ländliche Armut viel größer ist, als bisher offiziell zugegeben. Geberregierungen sollten diese Erkenntnis ernst nehmen.


[ Von Clemens Spiess ]

Es war zu schön, um wahr zu sein. Jahrelang berichtete die indische Regierung, die absolute Armut gehe seit Beginn der Liberalisierungspolitik Anfang der 1990er Jahre deutlich zurück. Laut offiziellen Daten war der Anteil der absolut Armen von 36 Prozent der Bevölkerung 1994 auf 27 Prozent (immerhin 297 Millionen Menschen) im Jahr 2005 gesunken. Die Tri­ckle-down-These schien sich zu bestätigen und Indien auf dem Weg zur Erfüllung des Millenniumentwick­lungsziels 1 (MDG 1) – der Halbierung der absoluten Armut zwischen 1990 und 2015 – voranzukommen.

Im April 2010 setzte die Anerkennung der Untersuchungsergebnisse der sogenannten Tendulkar-Kommission durch die indische Planungskommission der Euphorie ein jähes ­Ende. Im Auftrag der Regierung hatte sie die nationale Definition der Armutsgrenze überprüft. Indien richtet sich nicht nach der Weltbank-Definition von mittlerweile 1,25 Dollar Einkommen pro Kopf und Tag. Ihr zufolge ist die Armutsquote in Indien von 51 Prozent 1990 auf 42 Prozent 2005 gesunken, wobei die Zahl der betroffenen Personen sogar von 435 Millionen auf 456 Millionen stieg. In Indien aber galt seit Ende der 1970er Jahre der Geldwert des täglichen Verbrauchs von 2100 Kalorien in den Städten und 2400 im ländlichen Raum als amtliche Poverty Line. Zivilgesellschaftliche Akteure und Wissenschaftler hatten die offizielle Armutsgrenze schon seit langem als zu niedrig kritisiert.

Ergebnisse der Tendulkar-Kommission

Die Tendulkar-Kommission stellte nun fest, dass die im ländlichen Raum verwendete Armutsgrenze längst nicht mehr das notwendige Minimum für das tägliche Überleben abdeckte. Die Korrektur ließ die offizielle Zahl der absolut Armen in Indien schlagartig um zehn Prozent auf nun 37,2 Prozent der Bevölkerung (407 Millionen Menschen) steigen. Sie fristen mit umgerechnet etwa 1,15 Dollar oder weniger am Tag ihr Dasein. In Indien lebt somit rund ein Drittel der weltweit absolut armen Menschen. Die alte Armutsdefinition war zwar an die Inflation, aber nicht an veränderte Konsumgewohnheiten angepasst worden. Dabei hat sich auch das Verbraucherverhalten der Armen im Lauf der Jahrzehnte gewandelt. Das liegt nicht zuletzt daran, dass sich der Staat zunehmend aus Grundbildung und Basisgesundheitsversorgung zurückgezogen hat.

Schon 1991 hatte die Ökonomin Rohini Nayyar darauf hingewiesen, dass die offizielle Armutsgrenze und der tatsächliche Kalorienverbrauch auseinanderklafften. Spätestens 2005 war die offizielle Armutsgrenze in der Praxis zu einer Art „Hungersnotgrenze“ geworden. Mit einer Orientierung an menschlichen Grundbedürfnissen hatte sie nicht mehr viel zu tun.

Die Tendulkar-Kommission verabschiedete sich vom Verbraucherprofil der 1970er Jahre. Ihre Armutsdefinition für die Ballungsräume bleibt dabei umstritten. Sie sieht nur noch einen täglichen Bedarf von 1770 Kalorien vor – also sogar etwas weniger als die FAO-Empfehlung von 1800 Kalorien und deutlich weniger als die 2100 Kalorien Ende der siebziger Jahre.

Durch diesen Schritt blieb die urbane Poverty Line auf dem Geldwert von 2005. Enthalten sind darin nun auch Ausgaben für andere Dinge als Lebensmittel. Im ländlichen Raum führte die Neubewertung aber zu einer Anhebung der Armutsgrenze um etwas mehr als 20 Prozent auf 14,8 Rupien pro Tag. Damit wurden auf einen Schlag aus amtlicher Sicht 110 Millionen Menschen zusätzlich als arm klassifiziert. Hätte die Tendulkar-Kommission realistischerweise nur eine geringfügig höhere Kaloriennorm verwendet, wäre die Zahl noch stärker gestiegen.

Die Ergebnisse bedeuten nicht unbedingt, dass die Armut in den letzten 20 Jahren gar nicht zurückgegangen wäre. Die Bemessungsgrenze wurde ja geändert. Klar ist aber, dass der Rückgang längst nicht so spektakulär ist wie bislang angegeben.

Die Korrektur kann für die indische Politik der Armutsbekämpfung weitreichende Folgen haben. Die Poverty Line bestimmt nämlich großteils, wer Anspruch auf subventionierte Nahrungsmittel und andere Beihilfen aus staatlichen Wohlfahrtsprogrammen hat. Die Kongresspartei hatte mit ihrer Regierungskoalition („United Progressive Alliance“) vor den Wahlen im vergangenen Jahr ein Gesetz angekündigt, um das „Recht auf Nahrung“ durchzusetzen. Dass der Bericht der Tendulkar-Kommission akzeptiert wurde, hat damit zu tun, dass den Ministerien, die mit dem „Food Security Act“ befasst sind, an einer soliden Datenbasis gelegen war.

Das Ausmaß der Armut und die dadurch implizierten höheren Kosten des Rechts auf Nahrung waren denn aber doch ein Schock. Also wurde schnell wieder zurückgerudert. Die Ministerialrunde machte den Vorschlag, die staatlichen Zuteilungen künftig an eine Armutsobergrenze zu binden. Diese sollte sich an der ursprünglich angenommenen Armutsquote von 27 Prozent orientieren.

Solch ein Schritt würde aber nicht nur dem Bericht der Tendulkar-Kommission widersprechen, sondern auch zwei weiteren von der Regierung zuvor in Auftrag gegebenen Studien. Die Saxena-Kommission hatte 2009 den Anteil der absolut Armen auf 42 Prozent geschätzt. Die Sengupta-Kommission war 2007 sogar auf fast 80 Prozent gekommen.

Die Regierung hat nun zwei Alternativen:
– Sie kann die Daten der Tendulkar-Kommission als Basis für ihre Armutsbekämpfungspolitik nehmen, oder
– sie verabschiedet sich davon, die Armut überhaupt staatlich schätzen zu lassen.
Letzteres kann sinnvoll sein, wenn eine konsequente Politik zur Befriedigung von Grundbedürfnissen betrieben wird, die ohne eine Definition der Bezugsberechtigten auskommt. Der Bundesstaat Tamil Nadu hat damit viel versprechende Erfahrungen gesammelt.

Die Motive der Regierung, die Ergebnisse der Tendulkar-Kommission mit Zurückhaltung zu behandeln, sind offensichtlich. Sie fürchtet, dass die Kosten der staatlichen Armutsbekämpfung in die Höhe schnellen. Außerdem widerspricht der Bericht der sorgfältig gepflegten Wahrnehmung, dass die liberale Wirtschaftspolitik die Armut massiv zurückgedrängt habe.

Keine Reaktion der Gebergemeinschaft

Die internationale Gebergemeinschaft hat auf den Bericht der Tendulkar-Kommission bisher nicht reagiert. Dafür gibt es mehrere Gründe. Zum einen wird international die Armutsdefinition der Weltbank verwendet, der zufolge es in Indien ohnehin mehr absolut Arme gibt als von der Tendulkar-Kommission taxiert. Zum anderen aber stellt sowohl die bilaterale als auch die multilaterale Entwicklungszusammenarbeit mit Indien mittlerweile auf andere Themen als die Armutsbekämpfung ab. Das gilt umso mehr, je mehr Indien selbst als Geber auftritt. Dominierende Themen sind heute eher die Umwelt- und Energiepolitik, was sicherlich globalen Herausforderungen entspricht, aber auch der Absatzförderung entgegenkommt.

MDG 1 – die Reduzierung der absoluten Armut – spielt aber nun ausgerechnet in dem Land, in dem mehr Menschen als irgendwo sonst auf der Welt Not leiden, für die Entwicklungszusammenarbeit nur noch eine untergeordnete Rolle. Wenn die Millenniumsziele international noch Geltung haben sollen, ist das nicht akzeptabel. Die internationale Gebergemeinschaft täte gut daran, dem sich bisweilen als Weltwirtschaftsmacht gerierenden Indien seine eigene Armutsschätzung wie einen Spiegel vorzuhalten. Forcierte Anstrengungen, die Armut zurückzudrängen, sind in Indien weiterhin dringend nötig.

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