Binnenvertreibung

Binnenvertreibung ist ein großes Problem im Norden Nigerias

Mehr als 10 Millionen Nigerianer sind Binnenvertriebene (internally displaced persons – IDPs), zählt die Nationale Kommission für Flüchtlinge, Migranten und Binnenvertriebene. Das sind mehr als die Einwohner Schwedens. Die Zahl ist schnell gewachsen.
Präsident Buhari besucht 2019 ein Vertriebenenlager in Katsina. picture-alliance/Photoshot Präsident Buhari besucht 2019 ein Vertriebenenlager in Katsina.

Als Präsident Buhari 2015 sein Amt antrat, gab es in Nigeria nur 1,5 Millionen Binnenvertriebene. Hauptgrund für die Zunahme sind schwere Unruhen, aber auch Naturkatastrophen wie Überschwemmungen. Die Nationale Kommission schätzt, dass allein vergangenes Jahr 300 000 Menschen innerhalb des eigenen Landes vertrieben wurden.

IDP-Zahlen sind nicht zuverlässig. Statistiken sind das selten, sie sind aber besonders schwer präzise zu erheben, wenn Katastrophen passieren und die Menschen an Orten mit schwacher Infrastruktur leben.

Außerdem gilt nicht jeder, der aus Verzweiflung aus seiner Heimat flieht, als Vertriebener. Viele Landbewohner ziehen in der Hoffnung auf ein besseres Auskommen in Städte, sodass die Grenze zwischen Binnenmigration und Binnenvertreibung verschwimmt. Die innenpolitische Debatte in Nigeria konzentriert sich daher auf die Menschen, die in Flüchtlingslagern leben. Pläne der Regierung, diese Lager aufzulösen, werden derzeit heiß diskutiert (siehe Kasten).

Einige Dinge sind jedoch offensichtlich:

  • Der Boko-Haram-Aufstand, der 2014 seinen Höhepunkt hatte und vor allem den Nordosten Nigerias betrifft, ist die wichtigste Ursache für Vertreibungen, und der Frieden in der Region ist noch nicht wiederhergestellt.
  • Die Ernährungssicherheit verschlechtert sich in ganz Nigeria, und der durch Covid-19 ausgelöste wirtschaftliche Abschwung hat die Probleme noch verschärft. Am schlimmsten ist die Lage in der nordöstlichen Krisenregion.
  • Das Leben in den Lagern für Binnenvertriebene ist leidvoll.

Gewaltgeplagte Region

Nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks leben derzeit 2,4 Millionen Binnenvertriebene im nigerianischen Teil des Tschadseebeckens. Er umfasst die sechs nigerianischen Bundesstaaten Adamawa, Bauchi, Borno, Gombe, Taraba und Yobe. In Borno begann der Boko-Haram-Aufstand. 2014 kontrollierten die dschihadistischen Extremisten sogar einen Teil des Gebietes. Allein in diesem Jahr töteten sie schätzungsweise 11 000 Menschen.

Auch außerhalb Bornos gab es Anschläge. Nigerias Nachbarländer Kamerun, Tschad und Niger sind ebenfalls betroffen. Manche Menschen sind über die Grenze geflohen, sodass sie jetzt offiziell als Flüchtlinge gelten. In allen betroffenen Ländern gibt es auch Binnenvertriebene. Es ist schwierig, Flüchtlinge von IDPs zu unterscheiden, da auf beiden Seiten einer Landesgrenze meist lokale Sprachen gesprochen werden und viele Menschen keine offiziellen Dokumente besitzen.

Die regionale Krise hat mehrere Dimensionen. Die Bevölkerung wächst schnell, während sich die Wasserknappheit verschärft, insbesondere aufgrund der globalen Klimakrise. Viele junge Menschen sind wütend und verzweifelt, was den militanten Gruppen die Rekrutierung erleichtert. Zu einem gewissen Grad bieten Banden zudem eine Perspektive. In anderen Teilen der Sahelzone ist die Situation ähnlich.

Der Nordosten Nigerias ist weiterhin von Gewalt geplagt, obwohl die Dschihadisten in Nigeria etwas an Boden verloren haben. Buhari gewann die Wahlen 2015 mit dem Versprechen, die Ordnung wiederherzustellen. „Wir werden keine Mühen scheuen, bis wir den Terrorismus besiegt haben“, versprach er kurz nach seinem Wahlsieg. Er nannte es eine „schwierige und dringende Aufgabe“.

Knapp sieben Jahre später ist die Lage weiter angespannt. Verschiedene bewaffnete Gruppen sind aktiv. Von offizieller Seite wird behauptet, es handele sich um ein reines Problem der öffentlichen Ordnung und der Aufstand sei vorbei. Für die gefährdeten Menschen vor Ort macht das jedoch keinen Unterschied.

Internationale Beobachter schlagen Alarm. „Der Konflikt im Bundesstaat Borno und die Gewalt im Nordwesten werden in den kommenden Monaten wahrscheinlich zunehmen. Es wird weitere Vertreibungen geben und den ohnehin schon extrem schwierigen Zugang für humanitäre Hilfe erschweren“, heißt es in einem im Sommer veröffentlichten Bericht der UN-Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation und dem Welternährungsprogramm, der prognostiziert: „Die landesweite Inflation und die hohen Lebensmittelpreise werden voraussichtlich weiter steigen und den Zugang zu Nahrungsmitteln beeinträchtigen.“

Internationale Nichtregierungsorganisationen äußern sich besorgt. Im Sommer schätzte Save the Children, dass unter den 2,3 Millionen Kindern und Jugendlichen, die im Nordosten Nigerias hungern, auch 700 000 Kinder unter fünf Jahren sind. Shannon Ward, die Leiterin des Nigeria-Büros der Organisation sagt: „Millionen von Kindern haben bereits ein Jahrzehnt des Leidens, der Gewalt und humanitären Krise hinter sich.“

Leid in den Flüchtlingslagern

Menschen in Flüchtlingslagern sind dem Risiko von Unterernährung, Hunger und sogar dem Verhungern ausgesetzt. Die Versorgung mit Kleidung und Medikamenten ist oft schlecht. Probleme mit der Sanitärversorgung verschärfen das Problem von unzureichender Gesundheitsversorgung. Obwohl viele Kinder und Jugendliche in den Lagern leben, sind die Bildungseinrichtungen schlecht oder gar nicht vorhanden (siehe Qaabata Boru im Schwerpunkt unseres Digital Monthly 2021/04).

Binnenvertriebene leiden meist stärker unter psychischen Problemen als Menschen, die ihre Heimat nicht verlassen mussten. Nach Angaben des in Genf ansässigen Internal Displacement Monitoring Centre sind Depressionen und posttraumatische Belastungsstörungen weit verbreitet. Professionelle Unterstützung kann helfen, aber in den Lagern fehlt es meist an geschultem Personal.

Die Mehrheit der Erwachsenen in den Vertriebenenlagern sind Frauen. Sexuelle Belästigung und geschlechtsspezifische Gewalt sind leider weit verbreitet. Die Bewegungsfreiheit ist eingeschränkt, und IDPs sind den Sicherheitskräften ausgeliefert. Nach Angaben des Legal Defence and Assistance Project (LEDAP), einer nigerianischen Interessenvertretung, wurden Frauen und Mädchen in Lagern im Nordosten systematisch im Tausch gegen Nahrung und Wasser sexuell missbraucht. Sogar schwangere Frauen sollen vergewaltigt worden sein. Frauen wurden auch zu Ehen gezwungen oder in die Sklaverei verkauft.

Ähnliche Berichte gab es schon früher. So dokumentierte Human Rights Watch (HRW) 2016 den sexuellen Missbrauch von 43 Frauen und Mädchen, die in Vertriebenenlagern in Maiduguri, der Hauptstadt des Bundesstaates Borno, leben. „Es ist schlimm, dass diese Frauen und Mädchen nicht die dringend benötigte Unterstützung für das schreckliche Trauma erhalten, das sie durch Boko Haram erleiden mussten“, schreibt die HRW-Wissenschaftlerin Mausi Segun. „Richtig beschämend und empörend ist zudem, dass die Menschen, die die Frauen und Mädchen beschützen sollen, sie angreifen und missbrauchen.“

Nicht nur das Leben in den Vertriebenenlagern ist leidvoll, auch viele Nigerianer sind in Not. Die Ernährungsunsicherheit wird immer schlimmer. Selbst wohlhabende Menschen in Nigeria sehen nur sehr begrenzte Perspektiven für sich selbst – und viele wollen in reichere Länder auswandern (siehe meinen Kommentar im Schwerpunkt im E+Z/D+C Digital Monthly 2021/09).


Ben Ezeamalu arbeitet als Journalist für die Premium Times in Lagos.
ben.ezeamalu@gmail.com
Twitter: @callmebenfigo

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