Fachliteratur

Mehr Gerechtigkeit in Lateinamerika

In Lateinamerika ist die Einkommensungleichheit in den vergangenen zehn bis 15 Jahren merklich zurückgegangen. Neueste Forschungsarbeiten beschäftigen sich mit den Gründen für diese Entwicklung. Von Rainer Thiele
Better secondary education has led to higher wages in Latin America: schoolgirls in La Paz, Bolivia. Ron Giling/Lineair Better secondary education has led to higher wages in Latin America: schoolgirls in La Paz, Bolivia.

Lateinamerika wird nicht selten mit einer tief verwurzelten und hohen Ungleichheit in fast allen Ländern der Region charakterisiert. Diese hat laut Wirtschaftshistorikern weit zurückliegende Ursachen und lässt sich deshalb durch entwicklungspolitische Maßnahmen nur schwer reduzieren. Wissenschaftler gehen bei ihren Erklärungsversuchen bis in die Anfänge der Kolonialzeit zurück. Nach Engermann und Sokoloff (2000) fanden die Siedler – anders als etwa in Nordamerika – geeignete Flächen für die Plantagenwirtschaft sowie Bodenschätze wie Gold und Silber vor, und sie beuteten Boden und Edelmetalle  unter Einsatz indigener Arbeitskräfte aus.


Dies führte zu einer Konzentration der Einkommen in den Händen einer kleinen Elite. Diese hatte ein geringes Interesse daran, in soziale Dienstleistungen wie Grundbildung und Basisgesundheit zu investieren oder Institutionen zum Nutzen der breiten Bevölkerung zu schaffen. Auf diese Weise verfestigte sich die Ungleichheit so  sehr, dass sie bis heute anhält.
Erfolge in fast allen Ländern

Neuere Forschung zeigt nun aber, dass nach der Jahrtausendwende die gemessene Einkommensungleichheit in weiten Teilen Lateinamerikas merklich zurückgegangen ist. Wie Birdsall et al. (2012) betonen, ist diese positive Entwicklung nicht auf Länder beschränkt geblieben, die einen Boom infolge außergewöhnlich hoher Rohstoffpreise erlebten, wie Argentinien und Venezuela. Auch Länder mit eher durchschnittlichem Wachstum wie Brasilien und Mexiko konnten die Einkommensungleichheit senken.

Entsprechend kommt Cornia (2014) mittels einer statistischen Analyse zu dem Ergebnis, dass das günstige weltwirtschaftliche Umfeld der frühen 2000er Jahre nur unwesentlich zur Reduzierung der Ungleichheit beigetragen hat. Auch die Geld-, Fiskal- und Wechselkurspolitik, die im Vergleich zu den 1990er Jahren in der Region insgesamt etwas expansiver geworden ist, hat nach Meinung des Autors keinen nennenswerten Effekt auf die Einkommensverteilung gehabt.

Lopez-Calva und Lustig (2010) machen hingegen zwei andere Faktoren aus, die in einer Reihe lateinamerikanischer Länder einen bedeutenden Einfluss auf die Verteilung der Einkommen gehabt haben: das Schrumpfen der sogenannten Bildungsprämie sowie eine aktivere und stärker auf die arme Bevölkerung ausgerichtete Sozial­politik.

Als Bildungsprämie wird das Einkommen bezeichnet, das Hochschulabsolventen im Vergleich zu geringer Qualifizierten zusätzlich erreichen können. Diese Einkommenskluft war in Lateinamerika sehr hoch, weil viele Staaten ihre Bildungspolitik auf die Universitäten fokussierten. Hochqualifizierte Arbeitnehmer verdienten deshalb im Vergleich zu Arbeitnehmern mit geringer Qualifizierung überproportional viel.

Dies veränderte sich in den 2000er Jahren insbesondere deshalb, weil die Sekundarschulbildung kontinuierlich ausgebaut worden war. Dies führte zu Lohnerhöhungen in den unteren Segmenten des Arbeitsmarktes, schreiben Cruces et al. (2011). Um diesen Trend aufrechtzuerhalten, ist es nach Ansicht der Autoren unabdingbar, in die Qualität des öffentlichen Schulsystems zu investieren. Dieses hinke der Expansion der meist privaten Bildungseinrichtungen im Sekundarbereich hinterher.
Arbeitsmarktpolitische Maßnahmen der Regierungen, wie die Stärkung der Gewerkschaften und die Erhöhung der Mindestlöhne, werden in der Literatur ebenfalls als Ursache für verbesserte Verdienstmöglichkeiten Geringqualifizierter genannt (Cornia 2014). Deren Aus­wirkungen auf die Bildungsprämie lassen sich empirisch jedoch nicht eindeutig nachweisen.

Die Sozialausgaben sind seit Mitte der 1990er Jahre in fast ganz Lateinamerika gestiegen. Sie sind zudem deutlich progressiver geworden, das heißt, sie haben eine stärkere Umverteilung zugunsten der Armen bewirkt, erklärt Cornia. Transferprogramme wie PROGRESA in Mexiko und Bolsa Familia in Brasilien haben einen signifikanten Beitrag zur Verringerung von Einkommensdisparitäten geleistet. Beide Programme gewähren staatliche Geldzahlungen an arme Familien, womit diese wiederum Schulgeld oder Gesundheitsleistungen wie Impfungen finanzieren können (Conditional Cash Transfer). Wie Goñi et al. (2011) zeigen, bewirken die Umverteilungen der Sozial­systeme in Lateinamerika allerdings immer noch weit weniger, als was in Westeuropa erreicht wird. Dies lässt sich unter anderem damit erklären, dass nach wie vor ein hoher Anteil der staatlichen Sozialausgaben in die Universitäten und Sozialversicherungen fließt und damit überwiegend privilegierten Gesellschaftsschichten zugutekommt.


Partizipation der ärmeren Bevölkerung

Birdsall et al. (2012) gehen der Frage nach, welche politischen Entwicklungen die Reformen in der Bildungs- und Sozial­politik überhaupt erst möglich gemacht haben. Möglicherweise spiegelt die lateinamerikanische Bildungsexpansion nur einen weltweiten Trend zum universellen Schulbesuch wider. Eine umverteilende Sozialpolitik ist jedoch ohne ein gewisses Maß an politischer Partizipation der bedürftigen Bevölkerung kaum vorstellbar. Das Erstarken der hauptsächlich von armen Wählergruppen getragenen Linksparteien in weiten Teilen Lateinamerikas könnte hier eine Rolle gespielt haben.

Um zu untersuchen, ob diese Vermutung zutrifft, unterteilen Birdsall et al. die politischen Regime Lateinamerikas in die Kategorien nichtlinks (z. B. Kolumbien und Mexiko), sozialdemokratisch (z. B. Brasilien und Uruguay) und linkspopulistisch (z. B. Bolivien und Venezuela). Tatsächlich gibt es Evidenz dafür, dass unter linken Regierungen die Einkommensungleichheit stärker als unter nichtlinken Regierungen reduziert werden konnte. Sozialdemokraten waren dabei wiederum erfolgreicher als die Linkspopulisten, weil es ihnen durch ihre sozialpolitischen Maßnahmen deutlich besser gelang, Einkommen von reicheren zu ärmeren Haushalten umzuverteilen.

Ob es sich bei der Verringerung der Einkommensdisparitäten in Lateinamerika um ein dauerhaftes oder nur vorübergehendes Phänomen handelt, lässt sich nicht abschließend beantworten. Die weitere politische Entwicklung ist sehr unsicher, und noch ausstehende Reformen wie die Verbesserung der Qualität öffentlicher Schulen erfordern einen langen Atem. Jedoch scheint sich zumindest in Teilen des Kontinents ein politischer Konsens dahin gehend herauszu­bilden, dass ein bestimmtes Maß an Umverteilung notwendig ist. Vor der diesjährigen Wahl in Brasilien etwa haben sich alle größeren Parteien klar für die Beibehaltung des Transferprogramms Bolsa Familia ausgesprochen.  

Rainer Thiele ist Leiter des Forschungsbereichs Armutsminderung und Entwicklung am Kieler Institut für Weltwirtschaft (IfW). rainer.thiele@ifw-kiel.de

Literatur:
Birdsall, N., Lustig, N., und McLeod, D., 2012: Declining Inequality in Latin America: Some Economics, Some Politics. In: P. Kingstone, D. Yashar (Hrsg.), Handbook of Latin American Politics. Routledge.
Cornia, G.; 2014: Falling Inequality in Latin America: Policy Changes and Lessons. UNU-WIDER Studies in Development Economics.
Cruces, G., Domenech, C.G., und Gasparini, L., 2011: Inequality in Education: Evidence for Latin America. UNU-WIDER Working Paper No. 2011/93.  
Engermann, S., Sokoloff, K., 2000: History Lessons: Institutions, Factor Endowments, and Paths of Development in the New World. The Journal of Economic Perspectives 14(3): 217-232.
Goñi, E., López, J.H., und Servén, L.,2011: Fiscal Redistribution and Income Inequality in Latin America. World Development 39(9): 1558-1569.
Lopez-Calva, L.F., und Lustig, N.,2010: Declining Inequality in Latin America: a Decade of Progress? Brookings Institution Press und UNDP.

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