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Online gibt es keine demokratische Gleichheit

Zac Gershbergs und Sean Illings Buch „Paradox of democracy” enttäuscht. Die New York Times versprach, es biete eine Analyse des Einflusses digitaler Medien. Leider verwenden die beiden Autoren einen vereinfachten Demokratiebegriff und vermeiden es, genau zu prüfen, wie das Internet die politische Kommunikation verändert.
Nicht nur die Sprache von Trump-Anhängern ist ungehobelt – ihr Verhalten ist es oft auch. picture alliance / ASSOCIATED PRESS / Paul Sancya Nicht nur die Sprache von Trump-Anhängern ist ungehobelt – ihr Verhalten ist es oft auch.

Normalerweise rezensiere ich keine Bücher, die ich nicht gut finde. Hier mache ich eine Ausnahme, weil ich auf wesentliche Schwächen hinweisen will. Beide Themen – das Wesen der Demokratie und der Einfluss digitaler Medien – sind enorm wichtig. Ich fasse hier zunächst die Kernthese des Buchs zusammen, arbeite dann heraus, was es hinsichtlich der Internet-Medien missversteht, und zeige schließlich, warum das Demokratieverständnis unvollständig ist.

Laut Gershberg und Illing ist Demokratie grundsätzlich fragil, weil die Meinungsfreiheit es erlaubt, Regierungen zu kritisieren und Veränderung zu fordern. Das halten sie zu Recht für gut, weil es den friedlichen und konstruktiven Umgang mit Missständen ermöglicht. Allerdings können sich Meinungen auch gegen die Demokratie selbst richten. Populistische Demagogen tun das dem Autorenpaar zufolge, um nicht nur gewählte Amtsträger, sondern auch das politische System selbst zu unterminieren.

Auf dieser Basis erklären sie die liberale Demokratie für tot. Sie definieren sie als ein System, in dem mächtige Medien und starke Institutionen die bestehende Ordnung schützten, indem sie erosive Diskurse in der Öffentlichkeit verhinderten. Heute dominierten aber etablierte Zeitungen und Sender die Debatten nicht mehr wie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, weil das Internet eine Ära der wahrhaft freien Rede eingeläutet habe. Redaktionen dienten nicht mehr als Torhüter, denn alle könnten sich online ohne Rücksicht auf Konventionen äußern. Folglich sei die Demokratie sogar noch demokratischer geworden, weil nun im Internet Frust, Wut und Hass freien Lauf hätten. Ob das Behauptete stimmt oder nicht, ist aus ihrer Sicht weniger wichtig, als ob es Resonanz findet.

Gershberg und Illing behaupten zu Recht, jede politische Ordnung hänge von der zugrunde liegenden politischen Kultur ab. Tatsächlich sind demokratische Institutionen nur so stark, wie das Vertrauen der Menschen sie macht. In dieser Hinsicht ist das Theorem der Autoren, die Demokratie sei ständig gefährdet, richtig. Gershberg und Illing übersehen aber, dass auch Institutionen Diskurse prägen können – und auch sollen. Nicht alles, was legal ist, ist auch legitim. Die Autoren vernachlässigen, dass systematisch gegen destruktive Desinformation vorgegangen werden muss.

Institutionelles Versagen

International gibt es viel populistische Propaganda im Internet. Ein wichtiger Grund ist, dass die US-Gesetzgebung Internetplattformen von der Haftung für Inhalte befreit hat. Das US-Recht ist maßgeblich, weil viele wichtige Internetunternehmen ihren Sitz in den USA haben und es keine internationalen Bestimmungen gibt. Verbreiten konventionelle Medien Fehlinformationen, können sie dafür belangt werden – Social-Media-Plattformen aber nicht. Der US-Kongress könnte – und sollte – die Flut von Fake-News-Propaganda entsprechend eindämmen.

Deutschland erlebte im 20. Jahrhundert zwei totalitäre Diktaturen – den Na­tionalsozialismus und später, im Osten, den Kommunismus. Wir haben gelernt, dass die Demokratie sich verteidigen muss. Ein deutsches Gesetz verpflichtet sei einiger Zeit Social-Media-Unternehmen dazu, innerhalb von 24 Stunden alle Hassrede-Posts, auf die sie hingewiesen werden, von ihrer Plattform zu nehmen. Das Gesetz ist bindend. Anders als in den USA regulieren sich die Unternehmen diesbezüglich nicht selbst.

Institutionell wäre mehr möglich. Da freie Rede gefährlich sein kann, sollte das Publikum immer wissen können, wer für eine veröffentlichte Aussage verantwortlich ist. Auf Social-Media-Plattformen ist das oft nicht der Fall. Accounts können gefälscht sein, und die Plattformen selbst sind nicht haftbar.

Auch stimmt die Einschätzung der beiden Autoren nicht, das Internet erlaube jedem gleichermaßen, an öffentlichen Debatten teilzunehmen. Im digitalen Raum sind nun mal nicht alle gleich. Laut Gershberg und Illing dürfen alle posten, was sie wollen, und die Internetkonzerne liefern dann den Nutzenden das, was diese sich wünschen. Auf Algorithmen gehen sie nicht ein, obwohl diese bekanntlich manche Themen wegdrücken und andere hervorheben. Zum Beispiel werden bei Facebook Posts gepuscht, wenn in entsprechende Werbung investiert wird. Viele können sich das nicht leisten, andere können aber dafür viel Geld ausgeben.

Richtig ist, dass Netznutzende aus dem auswählen, was die Algorithmen ihnen zeigen. Sie wissen aber nicht, was ihnen vorenthalten wird. Wenn Sie uns auf Facebook folgen, können Sie das ausprobieren, indem sie vergleichen, welche E+Z/D+C-Inhalte in Ihrer Timeline erscheinen, was wir auf unserer Profilseite posten und was wir auf der Website veröffentlichen. Sie werden sehen, dass der Facebook-Algorithmus Schlagzeilen nicht unterstützt, die auch nur ansatzweise kontrovers erscheinen können.

Algorithmen sind geheim. Wir Nutzende kennen sie nicht, wissen aber, dass sie Unternehmensinteressen dienen. Es geht um Gewinnmaximierung durch Lenkung unserer Aufmerksamkeit. Einerseits ist bekannt, dass potenziell umstrittene Themen auf unserer Website heruntergespielt werden. Andererseits wissen wir aber auch, dass YouTube und Facebook dazu neigen, Personen zu radikalisieren, indem sie nach und nach extremere Inhalte anbieten, um die Aufmerksamkeit zu binden.

Darauf, dass russische Bot-Farmen spalterische News in westlichen Demokratien viral gehen lassen, gehen Gershberg und Illing nicht ein. Damit bleibt die Frage offen, ob sie automatisch programmierte Aussagen aus dem Ausland als freie, von westlichen Demokratien zu akzeptierende Meinungsäußerung betrachten.

Sie ignorieren auch, dass Desinformation in anderen Sprachen als Englisch besonders schlimm ist. Die halbherzige Selbstregulierung der Silicon-Valley-Riesen interessiert sich kaum für Beiträge auf Spanisch, Suaheli, Amharisch, Hindi, Tagalog et cetera. Zugleich wollen die Konzerne aber in Lateinamerika, Afrika und Asien im Geschäft bleiben und vermeiden es entsprechend, autokratische Regime zu irritieren. Ihre Algorithmen beschleunigen vielerorts minderheitenfeindliche Hetze, bremsen aber die Kritik an Regierungen.

Gershberg und Illing gehen auf all das nicht ein und verzichten entsprechend darauf, institutionelle Lösungen überhaupt zu diskutieren. Sie begnügen sich damit, dass radikale Rhetorik erlaubt ist und demokratische Ordnungen ermöglicht. Damit zeigen sie ein sehr verkürztes Verständnis von Demokratie, die sich eben nicht nur durch Meinungsfreiheit auszeichnet. Dem deutschen Soziologen Niklas Luhmann bedeutet Demokratie vor allem, dass die Opposition institutionell eine Alternativregierung in Warteposition ist. Sie kann im Prinzip jederzeit die Verantwortung übernehmen. Das macht Demokratien dynamischer und anpassungsfähiger als autokratische Systeme, welche die Regierung verherrlichen und jegliche Opposition delegitimieren.

Der institutionelle Rahmen zählt

Gershberg und Illing negieren die Bedeutung von Institutionen. Entsprechend verzichten sie nicht nur auf Erwägungen, wie diese resilient gemacht werden, sondern verkennen auch, was Demokratien – ihre ausdrücklich favorisierte Staatsform – dynamisch macht. Es geht um mehr als die Freiheit, Missstände anzusprechen. Die Verfügbarkeit von Alternative ist wichtig. Der institutionelle Rahmen zählt.

Donald Trumps Aufstieg ins Weiße Haus 2016 wurde durch wütende Internet­rhetorik vorangetrieben. Aber er wurde auch durch die Institution des Electoral College ermöglicht, das ihm Macht gab, obwohl seine Gegenkandidatin Hillary Clinton fast 3 Millionen Stimmen mehr bekam. Diese Institution hat der Mehrheit den Willen verweigert. Zudem ermöglichte der demokratisch unausgewogene Senat es Trump, drei Richter am Supreme Court zu ernennen, wodurch die Mehrheit auf der Richterbank nun der Weltanschauung der Minderheit der Wähler und Wählerinnen entspricht, die republikanische Senatoren gewählt haben. Das sind institutionelle Unzulänglichkeiten und nicht einfach das Ergebnis unzivilisierter freier Rede.

Gershberg und Illing sehen den Brexit als zutiefst demokratisches Ereignis, weil die Wählerschaft entschied. Sie räumen aber ein, dass der Begriff nicht genau definiert war, und die Debatte darüber, was das tatsächlich bedeutet, erst nach der Entscheidung, die EU zu verlassen, richtig begann. Hätte der Begriff nicht vor dem Referendum geklärt werden müssen? Institutionell wäre das möglich gewesen – und es hätte einige Brexit-Paradoxien verdeutlicht. Stattdessen wurde zugelassen, dass populistische Rhetorik das Thema zu einer Frage des Patriotismus machte.

Die internationale Gemeinschaft steht vor riesigen Aufgaben. Wir brauchen globale Lösungen für globale Probleme. Autoritäre Regierungen werden diese nicht liefern – aber leider versagen auch demokratisch legitimierte Regierungen regelmäßig.

Im Schlagwortverzeichnis des Buchs werden für „Klimawandel“ nur drei Seiten angegeben. Ich habe es gründlich geprüft, auf der dritten kommt das Thema gar nicht vor. Die globale Erhitzung ist aber eine riesige Herausforderung auch für demokratische Staaten. Sie tun sich schwer mit langfristigen Problemen, weil alles Vorrang hat, was bis zur nächsten Wahl passiert. Viele unserer aktuellen Probleme hängen damit zusammen, dass den Menschen klar ist, dass es wegen der Klimakrise nicht weitergehen kann wie bisher. Einige leugnen das und bevorzugen systematisch Desinformation. Andere erkennen das Politikversagen und verlieren Vertrauen. Das wahre Paradoxon der Demokratie ist meiner Meinung nach, dass sie Lösungen für alles verspricht, aber alles vertagt, was nicht unmittelbar vordringlich ist.

Obwohl die drohende Selbstzerstörung unserer Spezies das dominierende Thema unsere Zeit ist, ignorieren Gershberg und Illing die Klimakrise. Dafür verschwenden sie viele Seiten mit Ausführungen über „ethnonationalistische“ Politik in diversen Ländern. Sie sind dabei so nachlässig, dass sie nicht einmal erwähnen, dass populistische Regierungen sehr oft von Wahlsystemen profitieren, bei denen zum Erfolg keine absolute Mehrheit der Stimmen nötig sind, sondern relative Mehrheiten reichen.

Es ist auch falsch, Indiens Premier Narendra Modi als „Ethnonationalisten“ zu bezeichnen. Er ist ein Hindu-Chauvinist, denn Indiens riesige muslimische Minderheit ist kein separates Volk. Die Autoren irren auch, wenn sie behaupten, Modi biete der hinduistischen Mehrheit attraktive Anreize. Der Hinduismus ist eine kastenbasierte Religion und eignet sich kaum für glaubensbasierte Solidarität. Der große Erfolg des Hindu-Chauvinismus besteht darin, dennoch einen hinduistischen Nationalismus geschaffen zu haben. Es ist erstaunlich, dass auch Angehörige niederer Kasten mitmachen. Das war früher nicht so, auch wenn gelegentlich antimuslimische Pogrome angezettelt wurden. In Modis Umfeld geben weiterhin die traditionellen Eliten aus hohen Kasten den Ton an, aber ihr Anspruch, für „das Volk“ zu sprechen, wirkt heute stärker als früher. Es gelingt ihnen heute, alle, die sich ihnen widersetzen, als „antinational“ zu diskreditieren.

In den USA ist das ähnlich. Trump ist Milliardär, kein Mann des Volkes. In Harvard und Yale ausgebildete Senatoren unterstützen ihn und wettern gegen „Eliten“, als gehörten sie selbst nicht dazu.

Plutokratischer Populismus

Es gibt so etwas wie einen plutokratischen Populismus (siehe meinen Artikel hierzu auf www.dandc.eu), aber den ignorieren Gershberg und Illing. Er dient den Superreichen, gibt aber vor, das breite Volk zu repräsentieren. Er gedeiht auf Vorurteilen, ist aber nicht gut darin, Politik zu gestalten. Es ist kein Zufall, dass jene, die von fossilen Brennstoffen profitieren, oligarchischen Populismus tendenziell befürworten – und das schließt Russlands Präsidenten Vladimir Putin und den saudischen Kronprinzen Mohamed bin Salman ein.

Gershberg und Illing halten dagegen am irreführenden Narrativ fest, Trump mobilisiere schlicht „das Volk“ gegen „die Elite“. Ihr Buch wäre besser, wenn sie untersuchten, inwieweit dieses Narrativ nur von Internetmedien oder auch von konventionellen Medien genutzt wurde und wird.

Tatsächlich halfen konventionelle Medien Trump in vieler Hinsicht. Unter „Objektivität“ verstehen Journalisten in den USA, dass die beiden großen politischen Parteien gleich viel Raum und Gewicht verdienen. Zu wenige Medienhäuser haben überhaupt darauf reagiert, dass nur noch eine dieser Parteien Demokratie uneingeschränkt befürwortet. Antidemokratische Lügen wurden und werden somit als ebenso legitim dargestellt wie wahrheitsgemäße Warnungen vor autoritären Tendenzen.

Die internationale Gemeinschaft braucht gute Regeln für Internetkommunikation. Dieses Buch hilft nicht dabei, solche Regeln aufzustellen.


Quelle
Gershberg, Z., and Illing, S., 2022: The paradox of democracy – Free speech, open media and perilous persuasion. Chicago/London, University of Chicago Press.


Hans Dembowski ist Chefredakteur von E+Z Entwicklung und Zusammenarbeit /D+C Development and Cooperation.
euz.editor@dandc.eu

 

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