Mikrofinanzwesen

Flexibel und diszipliniert

„Tontines“ sind als selbstorganisierte kleine Spargemeinschaften ein Beispiel für wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Zusammenhalt. Ihre große Stärke ist die wechselseitige Solidarität.
In vielen afrikanischen Staaten ist gemeinschaftliches Sparen populär und hat eine lange Tradition. Pedersen/picture-alliance/dpa In vielen afrikanischen Staaten ist gemeinschaftliches Sparen populär und hat eine lange Tradition.

Gemeinschaftliches Sparen kann sehr erfolgreich sein. Das beweist zum Beispiel eine Gruppe von Markthändlerinnen aus Abidjan, der Wirtschaftsmetropole der Côte d’Ivoire. Die Markthändlerinnen aus Abidjan haben sich als Genossenschaft zusammengeschlossen und einen Markt mit etwa 200 Läden und 700 Ständen aufgebaut. Dabei hat sie der internationale Mikrokreditgeber Oikocredit unterstützt.

Die Genossenschaft heißt COCOVICO (Coopérative de Commercialisation de Produits Vivriers de Cocody). Sie hat mittlerweile 600 Mitglieder. Sie vereint Marktfrauen unterschiedlichen Alters – zwischen 16 und 65 Jahren. Die Genossenschaft geht auf eine Initiative von Straßenhändlerinnen zurück, die sich zusammentaten, um bessere Vermarktungsbedingungen zu schaffen. Mit den Mieteinnahmen bedient COCOVICO nun die Oikocredit-Darlehen, die für den Aufbau des Marktes nötig waren (siehe Kasten).

Im Kern beruht COCOVICO auf einer alten Methode der ökonomischen Zusammenarbeit, die im frankofonen Westafrika „Tontine“ genannt wird. Tontines sind Zusammenschlüsse von Verwandten, Nachbarn, Freunden oder Arbeitskollegen. Es gibt Tontines in allen Gesellschaftskreisen, im städtischen Milieu wie im ländlichen Raum. Sowohl Bäuerinnen als auch Geschäftsleute schließen sich zu Tontines zusammen.

Durch die Spargemeinschaften sind die Teilnehmer finanziell und sozial abgesichert. In prekären Lebenssituationen und wirtschaftlich unsicheren Zeiten sind Tontines daher besonders wichtig. Eine wichtige Grundlage ist Reziprozität: Die Teilnehmer unterstützen sich gegenseitig. Das Geld wird gemeinsam gespart und gerecht unter den Mitgliedern geteilt.

In vielen afrikanischen Staaten ist gemeinschaftliches Sparen populär und hat eine lange Tradition: von Südafrika bis Senegal, über Sudan und Uganda. Auch in Kamerun verwalten viele Afrikaner ihr Erspartes gemeinsam. Es gibt viele unterschiedliche Modelle. Viele Spargemeinschaften arbeiten heute mit kommerziellen Banken und internationalen Organisationen zusammen. Bekannt sind Tontines in anderen Ländern auch unter lokalen Namen wie „Esusu“ (Nigeria), „Ekub“ (Sudan, Eritrea oder Kamerun) oder „Dschangi“ (Kamerun).

Die französische Wortschöpfung Tontine lässt sich vom Namen eines italienischen Bankiers, Lorenzo Tonti, ableiten, der im 17. Jahrhundert Kardinal Mazarin, damals Finanzminister von Ludwig XIV., ein auf Gegenseitigkeit basierendes Versicherungssystem vorgeschlagen haben soll. Afrikanische Tontines basieren auf verschiedenen traditionellen Formen gegenseitiger kollektiver Hilfe. Nach Einführung der Geldwirtschaft haben sich dann auf Gegenseitigkeit gegründete Zusammenschlüsse zur Finanzierung von außerordentlichen Ausgaben wie Beerdigungen, Taufen oder Pilgerfahrten gebildet. Tontines belegen die Fähigkeit der afrikanischen Gesellschaften, flexible und gleichzeitig disziplinierte Zusammenschlüsse zu bilden. Mit der Migration sind Tontines auch nach Europa gekommen.

Tontines haben meist einfache und klare Regeln, die mit großer Disziplin befolgt werden. Wer bei Sitzungen unentschuldigt fehlt oder andere Regeln missachtet, muss beispielsweise Strafe zahlen. Wer mehrfach störend auffällt, wird ausgeschlossen. Die Beiträge werden wöchentlich oder monatlich zu festgelegten Zeitpunkten eingezahlt. Die Bezeichnung „informell“ ist für diese offiziell nicht registrierten Vereine unpassend, weil sie strenge Regelsysteme haben. Der senegalesische Soziologe Papa Sow, der Tontines in der westafrikanischen Migrantencommunity in Katalonien untersucht hat, gebraucht stattdessen das adäquatere Adjektiv „populär“.

Papa Sow betont auch die soziokulturellen Aspekte der Tontines. Mitglieder stärken ihr Gemeinschaftsgefühl und ihre kulturelle Identität. Unter westafrikanischen Frauen sind Tontines indessen weiter verbreitet als unter Männern. Insbesondere in ländlichen Gebieten setzen sich Tontines zum Großteil aus Frauen zusammen.

Bei regelmäßigen Zusammenkünften zahlen die Mitglieder einen festgelegten Geldbetrag ein. Die Summe der Einzahlungen wird dann zu einem im Voraus bestimmten Termin an ein ebenfalls im Voraus bestimmtes Mitglied der Gruppe ausbezahlt. Im nächsten Turnus profitiert dann ein anderes Mitglied. Es gibt viele Modelle, die jeweils den Wünschen und Bedürfnissen der Mitglieder entsprechend verändert werden können.

Das Geld verwenden die Mitglieder für unterschiedliche Zwecke. Sie geben es für besondere Anlässe wie Feste oder Pilgerfahrten aus. Aber auch regelmäßige Ausgaben wie Schulgelder werden so bezahlt. Zudem wird das Geld in langfristige Anschaffungen wie Autos oder Grundstücke investiert. Solche Investitionen sind oft für die Geschäftstätigkeit relevant und generieren mittelfristig zusätzliche Einnahmen.

Erst seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wird den Tontines internationale Aufmerksamkeit geschenkt. Seitdem interessiert sich die ethnographisch-soziologische Forschung für das Sparmodell der Tontines. Seit gut 25 Jahren sind auch Regierungen und weltweit operierende Finanzinstitutionen auf diese riesigen „unterirdischen“ Sparvorkommen aufmerksam geworden.

Seitdem überlegt die Fachwelt, wie sie Tontines in den offiziellen Finanzsektor integrieren kann. Das ist sinnvoll, wenn so die Leistungsfähigkeit der Tontines gesteigert wird und größere, einkommensgenerierende Investitionen möglich werden, wie das bei dem Markt von COCOVICO in Abidjan offensichtlich der Fall war. Die Integration der Selbsthilfegemeinschaften in die Finanzwirtschaft darf indessen allenfalls sehr vorsichtig erfolgen. Kommerzielle Mikrokreditsysteme haben allzu oft arme Menschen in Schuldenfallen getrieben. Zudem besteht die Gefahr, dass Ersparnisse der Tontines bei riskanten Spekulationsgeschäften verloren werden. Das widerspräche offensichtlich dem Ziel, für soziale und finanzielle Sicherheit zu sorgen.


Eva-Maria Bruchhaus ist Entwicklungs-Consultant. Sie hat im Frühjahr zur Vorbereitung eines Runden Tisches des Goethe-Instituts Abidjan teilgenommen, bei dem Marktfrauen gemeinsam mit ivorischen und internationalen Experten über Tontines und Mikrofinanzwesen diskutierten.
nc-bruchhev@netcologne.de

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