Fehlende Altersversorgung

Vom Bürger zum Bedürftigen

Die langen Bürgerkriegsjahre haben in Sierra Leone nicht nur viele Tote gefordert, sondern auch die traditionellen sozialen Strukturen zerstört. Deshalb haben viele ältere Menschen niemanden mehr, der sich um sie kümmert.
Alte Frau bettelt in Freetown. Kerifallah Jenneh Alte Frau bettelt in Freetown.

Es gibt ein afrikanisches Sprichwort, das besagt: „Wer die Ältesten respektiert, pflastert seine eigene Straße zum Erfolg.“ Schon den Kindern wird beigebracht, Älteren mit Respekt zu begegnen und ihre Lebenserfahrung wertzuschätzen. Ältere Menschen werden als die Hüter der Kultur gesehen. In Afrika leben sie normalerweise mit ihren Kindern oder anderen Verwandten zusammen, so dass sie finanziell, medizinisch und emotional versorgt sind. Anders als im Westen wird es als beschämend angesehen, wenn Kinder ihre Eltern in einem Altersheim unterbringen.

Auch in Sierra Leone war dies lange Zeit so. Doch nach elf Jahren brutalem Bürgerkrieg ist diese Kultur verlorengegangen. Übrig blieben die besonders Schutzbedürftigen, hauptsächlich ältere Menschen, deren Dorfgemeinschaften zerstört worden sind. Nicht nur Einzelne wurden zu Opfern, es sind auch ganze Familien auseinandergerissen worden. Viele Ältere haben dadurch keine Kinder oder Verwandten mehr, die für sie sorgen können. Sie können aber auch nicht mehr selbst arbeiten und haben kein regelmäßiges Einkommen oder Unterstützung. Die Situation in Sierra Leone erfordert ein Eingreifen der Regierung und der Privatwirtschaft, um den bedürftigen alten Leuten Schutz und ein Dach über dem Kopf zu gewährleisten.

Die Industrialisierung verändert die soziale Lage in Sierra Leone. Viele ziehen vom Land in die schnell wachsenden Städte. Frauen, die sich traditionellerweise um Kinder und pflegebedürftige Eltern gekümmert haben, arbeiten nun in Firmen und haben kaum mehr Zeit für die Pflege der Angehörigen. Andere Verwandte, die früher in den Dörfern geblieben sind, ziehen nun ebenfalls in die Städte auf der Suche nach einem besseren Leben. Diese Entwicklung bereitet dem Land zunehmend Sorge. So hat Sierra Leone nur ein einziges Seniorenheim – das King George’s VI Home in Grafton – und das bei einer Bevölkerung von über 5 Millionen Menschen.

Weiter entwickelte Gesellschaften haben mittlerweile ganze Seniorendörfer mit medizinischer Versorgung, wo ältere Menschen ihren Lebensabend verbringen können. In diesen Ländern übernehmen die Regierung und die Privatwirtschaft die Versorgung älterer Menschen und stellten die notwendige Infrastruktur dafür bereit.

 

Nationales Sozialsicherungssystem

Nach dem langen Bürgerkrieg plant Sierra Leone nun, ein nationales Sozialsicherungssystem (National Social Safety Net) als Teil einer Strategie zur Armutsbekämpfung einzuführen. Ziel ist es, besonders den älteren Menschen den Zugang zu Lebensmitteln und Sozialleistungen zu verbessern, um so ihren Lebensunterhalt sicherzustellen und ihre Würde zu bewahren. Das Safety Net soll zudem das Zusammengehörigkeitsgefühl in der Gesellschaft stärken.

Anspruch auf diese staatliche Sozialhilfe hat, wer bestimmte Kriterien erfüllt: Die Betroffenen müssten mindestens 60 Jahre alt sein, kein regelmäßiges Einkommen haben und auch sonst keine Unterstützung empfangen. Im Rahmen eines Pilotprojektes des Arbeitsministeriums im Jahr 2008 erhielt eine Gruppe besonders Hilfebedürftiger monatlich etwa zehn US-Dollar. 

Das Pilotprojekt zeigte einige Schwierigkeiten auf, zum Beispiel den großen administrativen Aufwand, der nötig war, um die Bedürftigen zu identifizieren und sicherzustellen, dass sie auch die richtigen Zahlungen erhielten. Die Zielgruppe ist oft nicht mehr sehr mobil und kann ihre Rechte gegenüber nationalen und lokalen Behörden meist nur schwer durchsetzen. Daher wäre zusätzliches Geld nötig, damit das Projekt besser greift.

„Viele ältere Leute ohne Verwandte leben von der Hand in den Mund und sind von den Almosen Fremder abhängig“, sagt der Direktor des National Social Safety Net Programme, Abubakar Sadique Kamara. „Wir haben eine Befragung zu den Auswirkungen des Pilotprojekts gemacht. Die Ergebnisse zeigen, dass sich das Leben der Empfänger positiv verändert hat. Viele Betroffene mussten nicht mehr zum Betteln auf die Straße gehen“, sagt er. „Wir haben einen ,national vulnerability status‘ erfasst, der als Basis für eine sozialpolitische Strategie dienen soll.“ Nach Einschätzung von Abubakar Sadique Kamara braucht Sierra Leone „politischen Willen, um das Programm weiter umzusetzen“. Dieser ist seiner Meinung nach entscheidend für die Umsetzung einer „Agenda für Wohlstand“, die Präsident Ernest Koroma eingeführt hat, um  Sierra Leone zu einem Land mittleren Einkommens zu machen.

Neben der Umsetzung dieser Sozialpolitik, das sich nur an die kleine Gruppe der bedürftigen Älteren richtet, plant Sierra Leone eine allgemeine Rente, die sich an alle Bürger über 60 Jahre richtet. Diese konnte bisher nicht umgesetzt werden, weil das nötigte Budget nicht vorhanden ist. Es ist jedoch ein wichtiges Programm, das durch seinen breiten und inklusiven Ansatz helfen könnte, die Armut zu lindern. Internationale Geberorganisationen haben Probleme damit, eine Maßnahme zu unterstützen, die nicht direkt die wirtschaftliche  Produkti­vität unterstützt. In anderen einkommensschwachen Ländern unterstützten bilate­rale und multilaterale Geberinstitutionen ähnliche Projekte. Das zeigt, dass in der Entwicklungspolitik die Bereitschaft zu solchen Maßnahmen wächst.

Nachdem das Pilotprojekt beendet worden ist, geht es in Sierra Leone heute so weiter wie bisher. Mabinty Senesie, eine 78-Jährige aus Kono, die 2008 vom Pilotprojekt unterstützt wurde, sagt: „Ich habe damals etwas Geld von der Regierung bekommen, aber das ist schon lange her. Es hat mir einige Zeit geholfen, mich um mich selbst zu kümmern und nicht von jemandem abhängig zu sein. Ich wünschte mir, es wäre so weitergegangen.“ Sie ist die einzige Überlebende ihrer Familie. Ihr Mann und ihre zwei Kinder sind im Krieg gestorben. „Deshalb habe ich niemanden, der sich um mich kümmert, und bin auf den guten Willen meiner Freunde und Verwandten angewiesen“, erklärt Mabinty Senesie.

Leider geht es vielen so wie ihr. Immerhin versuchen Sierra Leones Politiker die Lage zu verbessern, so dass Ältere nicht mehr betteln müssen und wieder zu geschätzten Mitgliedern der Gesellschaft werden.

Fidelis Adele ist Geschäftsführer der Zeitung „Concord Times“ in Sierra Leone.

 

 

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