Editorial

Unverantwortliche Machtpolitik

Auf den ersten Blick hatte das schottische Unabhängigkeitsreferendum nichts mit Entwicklungspolitik zu tun. Es ging um ein paar Millionen Menschen, die sich schließlich für ihren Verbleib im britischen Königreich entschieden. Die unterschwellige Botschaft, dass ethnische Identität durch nationale Souveränität vollendet werden muss, war aber gefährlich. Die gemeinsame Sprache, das gemeinsame kulturelle Erbe und 300 Jahre gemeinsame Geschichte spielen demnach keine Rolle.
Britische Binnengrenze im Juni 2014. Fischer/image broker/Lineair Britische Binnengrenze im Juni 2014.

In Europas Nordwesten kann solches Denken nicht schnell Blutvergießen auslösen. In Europas Südosten ist das aber geschehen. Vor den ukrainischen Problemen mit Russisch sprechenden Separatisten erlebte Europa nach 1945 nur einmal Krieg – als ethnisch motivierte Gewalt Jugoslawien zerriss. Heute meinen selbst manche Deutsche, der russische Präsident Wladimir Putin wehre sich nur tapfer gegen westliche Anmaßungen. Das ist Unfug. Sie sollten Tschetschenen fragen, was Putin von ethnischer Selbstbestimmung hält.

Die Menschheit steht vor riesigen gemeinsamen Aufgaben. Klimaschutz, die Kontrolle ansteckender Krankheiten und der Kampf gegen die Armut sind nur drei davon. Wir brauchen nicht neue Grenzen, sondern grenzüberschreitende Zusammenarbeit. Unsere Zukunft hängt davon ab, dass wir trotz verschiedener Identitäten zusammen finden. 

Mittlerweile ist die Differenz zwischen Schiiten und Sunniten in vielen Ländern tödlich geworden. In Libyen sind zwar alle Muslime Sunniten, aber dort werden Mord und Totschlag mit Stammeszugehörigkeit begründet. Die Unterscheidung von Hutus und Tutsis führte in Ruanda zum Genozid und in Burundi zu jahrelangem Bürgerkrieg. Es ist recht leicht, Gewalt auszulösen. Frieden zu stiften und nachhaltige Entwicklung zu starten, ist viel schwerer. Dazu führt selbst die Gründung neuer Staaten oft nicht. Südsudan und Eritrea erlebten bald nach der Unabhängigkeit wieder Krieg – und beide sind bis heute bettelarm.

Was eine Nation ausmacht, ist relativ schwammig. Manchmal ist Sprache die Grundlage, manchmal Religion, manchmal Geschichte oder Kultur. Nationalismus übersieht dabei meist, dass Menschen nicht nur eine Identität haben.

In Kalifornien will derzeit Neel Kashkari als Republikaner Gouverneur werden. Er ist Hindu und gehört damit ganz bestimmt nicht der Religion der meisten konservativen Amerikaner an. Mesut Özil stammt aus einer türkischen Familie und wurde neulich mit der deutschen Nationalmannschaft Fußball-Weltmeister. Sein Arbeitgeber ist der FC Arsenal. Dass ihm in London Skepsis entgegenschlägt, liegt nicht an seinem nationalen oder religiösen Hintergrund, sondern daran, dass der Verein für seinen Transfer von Real Madrid mehr als 50 Millionen Euro bezahlt hat. Auch Schotten haben übrigens multiple Identitäten. David McAllister ist CDU-Mitglied, Europaabgeordneter und ehemaliger niedersächsischer Ministerpräsident. Er hat die deutsche und, dank eines schottischen Vaters, die britische Staatsangehörigkeit.

Es ist absurd, Menschen nicht mehrfache Identitäten zuzugestehen. Wir alle haben das Recht, unsere Persönlichkeit auf der Basis vielfacher Grundlagen zu entfalten. Die Betonung einzelner Aspekte spielt denen in die Hände, die Identitäten für unverantwortliche Machtpolitik missbrauchen. Stumpfsinnige Feindbilder sind keine angemessene Antwort auf die Probleme, die unsere Spezies lösen muss.

 

Hans Dembowski ist Chefredakteur von E+Z Entwicklung und Zusammenarbeit / D+C Development and Cooperation.
euz.editor@fs-medien.de

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