Jugendkriminalität

„Gewalt und Trauer jeden Tag“

Zehntausende Jugendliche haben sich in Guatemala gewalttätigen Banden angeschlossen oder arbeiten für Drogenkartelle. Für viele endet das tödlich. Victor Puluc von der Jugendorganisation SODEJU-FUNDAJU (Sociedad para el Desarrollo de la Juventud) erklärt Eva-Maria Verfürth im Interview, dass zerrüttete Familien dazu beitragen, dass sie sich in Gefahr begeben.
Zwei Mitglieder der Jugendgang „Mara 18“ nach ihrer Festnahme in Guatemala. picture-alliance/dpa Zwei Mitglieder der Jugendgang „Mara 18“ nach ihrer Festnahme in Guatemala.

Gemessen an der Mordrate, gehört Guatemala zu den gefährlichsten Ländern weltweit. Ein großer Teil der Kriminalität geht von Jugendlichen aus. Warum geraten so viele Minderjährige auf die schiefe Bahn?
Rund ein Drittel aller 13- bis 29-Jährigen in Guatemala wird auf irgendeine Weise vernachlässigt: Bildungschancen, Jobangebote und auch Gesundheitsversorgung reichen nicht aus. Der Staat kümmert sich nicht richtig und verletzt damit die Grundrechte von Kindern und Jugendlichen.

Welche Bedeutung haben Familienstrukturen in diesem Zusammenhang?
Die Familiensituation ist essenziell. In der Pubertät brauchen Jugendliche Begleitung, aber in vielen Familien bekommen sie diese Unterstützung nicht. Meist müssen beide Elternteile arbeiten, sie rackern im informellen Sektor, und die Kinder sind auf sich allein gestellt. Solche Kinder sind besonders gefährdet, kriminell zu werden. Zudem wissen wir aus unseren Projekten, dass viele Eltern nicht wissen, wie man Kinder erzieht. Sie kommunizieren falsch oder verlieren schnell die Geduld. Gewalt und Machismo sind in Familien weit verbreitet und prägen die Kinder. Drogen und Alkohol sind weitere Probleme. Wenn Jugendliche sich nicht als Teil einer intakten Familie fühlen, suchen sie anderswo Anschluss.

In welchen Familien sind die Probleme besonders groß?
In den indigenen Gemeinschaften ist es oft etwas weniger problematisch. Die traditionellen Werte geben Richtlinien für das Familienleben. In den städtischen Gebieten erodiert das aber schnell. Drogen- und Alkoholprobleme sind größer, das Leben ist schwieriger und der tägliche Kampf ums Überleben härter.

Die größten Kriminalitätsprobleme entstehen in den sogenannten „Zonas Rojas“: informelle städtische Siedlungen, die für Außenstehende unzugänglich sind. Was passiert dort?
Die meisten Bewohner sind sehr arm, es fehlt an Infrastruktur und sie haben keine Perspektiven. Die Polizei traut sich hier nicht mehr hin, sodass die Justiz ohnmächtig ist und Gangs und Drogenkartelle die Quartiere kontrollieren können. Das organisierte Verbrechen agiert oft aus Gefängnissen heraus und braucht Handlanger. Die Jugendlichen aus den Zonas Rojas sind da leichte Beute: Sie sind arm, allein und suchen nach Chancen. Sie werden als Auftragsmörder angeheuert, als kleine Drogendealer oder -kuriere, als Erpresser oder Geldeintreiber.

Weshalb sind die Perspektiven für Jugendliche in den Zonas Rojas so schlecht?
Es beginnt schon bei der Schulbildung. Das Bildungsniveau ist in Guatemala insgesamt niedrig und in den armen Gegenden besonders. Außerdem kostet Bildung Geld: Es gibt zwar überall öffentliche Schulen, aber Uniform, Bücher und Schulmaterial sind teuer. Viele Jugendliche verlassen daher irgendwann die Schule, um sich Arbeit zu suchen – oder sie treten in eine Jugendbande ein. Geld verdienen und etwas zu Essen haben ist den meisten wichtiger als ein Abschluss. Immerhin gibt es mittlerweile Möglichkeiten, den Abschluss später nachzuholen, etwa in Abend- oder Wochenendschulen. Aber auch dann haben sie kaum Chancen, eine Arbeit zu finden.

Wieso nicht?
Die Zonas Rojas werden von der Außenwelt stigmatisiert, nahezu verteufelt. Unternehmen wollen ihre Bewohner nicht einstellen. Viele Jugendliche geben deshalb bei der Bewerbung einen falschen Wohnort an. Sie müssen lügen, um eine anständige Arbeit zu bekommen.

Gilt das auch für einfache Tätigkeiten, etwa in den Maquilas, den großen Textilfabriken?
Die Maquilas sind wieder ein anderes Thema. Ich würde das nicht als anständige Arbeit bezeichnen, da hier so viele Arbeitsrechte verletzt werden. Sie bieten auch keine wirkliche Perspektive, da die meisten nach den fünf Jahren Steuerfreiheit, die ihnen die Regierung zugesteht, wieder schließen. Zudem werden die Maquilas indirekt auch von den Jugendbanden kontrolliert. Wenn Jugendliche dort arbeiten, fordert die Gang einen Teil ihres Lohns als Schutzgeld ein.

Kinder in Armutsvierteln wachsen zudem oft nur mit einem oder gar keinem Elternteil auf.
Das stimmt. Die Kinder hier erleben jeden Tag Gewalt, Trauer und Konflikt. Eine unserer Jugendgruppen-Koordinatorinnen hat keinen Vater, und ihre Mutter ist kürzlich gestorben. Nun muss sie sich allein um ihre jüngeren Geschwister kümmern. Und einer unserer Mitarbeiter hat seinen Vater verloren, der als Busfahrer wegen einer Schutzgeldzahlung von einer Gang ermordet wurde. Ihre Biographien zeigen aber auch, dass unsere Programme wirken, denn wir konnten sie auffangen. Wir würden gerne noch mehr machen und den Jugendlichen wirklich individuelle psychosoziale Unterstützung anbieten. Aber dafür bräuchten wir mehr finanzielle Ressourcen und mehr Personal.

Was genau macht SODEJU-FUNDAJU?
Wir wollen Beteiligungsmöglichkeiten und Perspektiven schaffen. Zum Beispiel bieten wir in unseren Jugendzentren Informatikkurse an, mit denen die Jugendlichen Stipendien bekommen können. In den meisten Vierteln haben wir Jugendgruppen mit bis zu 50 Mitgliedern aufgebaut, die selber Aktivitäten planen und durchführen. Eine Gruppe stellt zum Beispiel Kunsthandwerk her und verdient damit Geld. Die Gruppen machen auch Aufklärungsarbeit und führen Gespräche mit Eltern und Behörden. Zudem haben wir Handbücher zu Erziehung, Gesundheit, Sexualaufklärung und Umweltbildung herausgegeben. Politisch sind wir ebenfalls tätig und dringen auf eine bessere Jugendpolitik. Darüber hinaus haben wir auch ein Programm für straffällig gewordene Minderjährige.

Was können Sie für straffällig gewordene Jugendliche tun?
Die Jugendlichen haben meist kleine Delikte begangen, waren Drogenkuriere oder an Überfällen beteiligt. Aber häufig geht es auch um sexuelle Gewalt. Wir wollen ihnen vor allem helfen, Arbeit zu finden: Wir kooperieren mit Unternehmen, die sich bereiterklärt haben, solche Jugendliche bei sich aufzunehmen. Diese Firmen zu finden war nicht einfach.

Können Sie überall im Land gleich gut arbeiten?
In besonders gewaltträchtigen Vierteln gibt es natürlich auch mehr Probleme. Lo de Carranza zum Beispiel ist eine Zona Roja am Rand der Hauptstadt. Hier wohnen mindestens 150 000 Familien, die zum Teil völlig von jeglicher Infrastruktur abgeschnitten sind. Im Durchschnitt werden hier jeden Monat fünf Menschen ermordet. Auftragsmörder haben bereits vier Mitglieder unserer Jugendgruppe dort getötet – vielleicht aus Rache oder weil sie sie verwechselt haben. In einem anderen Viertel, in Palín, sind kurze Entführungen gegen Lösegelderpressung in Mode gekommen. Auch da ist es für unsere Jugendgruppe sehr schwierig, aktiv zu sein. Insgesamt wurden bereits zwei unserer Gruppen selbst für Gangs gehalten. Und eines unserer Jugendzentren wurde von einer Bande um Schutzgeld erpresst, da sie das Gebäude mit seinen Computerräumen für ein Geschäft hielten. Wir konnten aber klarstellen, dass wir eine soziale Einrichtung sind, und werden seitdem in Ruhe gelassen.

Und wie sieht es in ländlichen Gebieten aus?
Dort gibt es andere Sorgen. In San Raymundo ist Arbeitslosigkeit das größte Problem und in San Juan la Laguna gab es eine Serie von Selbstmorden unter Jugendlichen, weil sie keine Perspektive sahen. Dort hat unsere Jugendgruppe Kunst- und Sportangebote auf die Beine gestellt.

Gelingt es manchmal, Jugendliche aus dem Bandenmilieu zu befreien?
Bei uns geht es mehr um Prävention, wir arbeiten nicht direkt mit Gangmitgliedern zusammen. Aber wir versuchen zu erreichen, dass weniger Jugendliche eintreten. Nicht alle sind in Mafiaaktivitäten eingebunden. Viele wollen der Gewalt sogar aus dem Weg gehen, aber das ist nicht einfach. Die meisten sind mit Bandenmitgliedern befreundet, oft haben sie schon als Kinder zusammen gespielt. In unseren Gruppen sind mehrere Jugendliche, die kurz davor waren, in eine Gang einzutreten, die aber durch unsere Programme neue Ziele entwickelt und den Schritt letztlich doch nicht getan haben. Was wir auch viel erleben, sind Kinder, die anfangs sehr schüchtern und scheinbar desinteressiert sind, mit der Zeit aber selbstbewusster werden und sogar Gruppenleitungen übernehmen.

Sie arbeiten auch mit den Eltern – was raten Sie ihnen?
Wir lassen sie über ihre eigene Kindheit und über die Situation ihrer Kinder nachdenken. Dann überlegen wir zusammen, was sie verbessern können und welche Werte sie vermitteln wollen. Wir sagen ihnen beispielsweise, dass es wichtig ist, sich füreinander zu interessieren, sich zuzuhören und Zeit zu nehmen, sich in der Familie gegenseitig zu unterstützen, zu respektieren und die Arbeit im Haushalt aufzuteilen.


Victor Puluc arbeitet bei der guatemaltekischen Organisation SODEJU –FUNDAJU (Sociedad para el Desarrollo de la Juventud) im Bereich Gewaltprävention. Unterstützt wird das Programm von der deutschen NGO AWO International.
jovipuluc@gmail.com

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