Ökosysteme

Weshalb die Artenvielfalt der Andamanen wichtig ist

Vom Schutz der Umwelt profitieren nicht nur seltene Tier- und Pflanzenarten. Auch indigene Völker sind darauf angewiesen. Ein eindrucksvolles Beispiel sind die Onge, die auf der Insel Little Andaman im Indischen Ozean leben. Ihre Existenz ist gefährdet: Indien will auf ihrem Land eine neue Megastadt bauen.
Ein Mann des Onge-Volkes ruht sich auf einer Hängematte aus. Survival International Ein Mann des Onge-Volkes ruht sich auf einer Hängematte aus.

Little Andaman ist eine der Inseln der Andamanen und Nikobaren. Der abgeschiedene Archipel gehört zu Indien, obwohl das  Festland mehr als 900 Kilometer von der nördlichsten Andamanen-Insel entfernt liegt. Myanmar dagegen ist nur etwa 200 Kilometer weit weg.

Viele tropische Inseln sind Biodiversitäts-Hotspots (siehe Nicolas Zuël im Schwerpunkt des D+C/E+Z e-Paper 2020/07). Das gilt auch für die Andamanen und Nikobaren. Forstbeamte zählten dort über 2500 Arten von Blütenpflanzen, von denen 223 Arten endemisch sind, das heißt, sie kommen nirgendwo sonst vor. Nach offiziellen Angaben gibt es außerdem 55 Säugetierarten (32 endemisch), 244 Vogelarten (96 endemisch) und 76 Reptilienarten (24 endemisch). Mit 179 Korallenarten haben die Inseln zudem das vielfältigste Korallenriff Indiens. Viele dieser Arten sind selten und vom Aussterben bedroht.

Historisch war der Archipel von einer großen kulturellen Vielfalt mit verschiedenen indigenen Völkern und Sprachen geprägt. Ihre Kulturen entwickelten sich über viele Jahrhunderte ohne Kontakt zur Außenwelt, aber eng verbunden mit der Natur. Die Lebensweise indigener Gemeinschaften ist typischerweise eng mit Ökosystemen verknüpft, so dass sie vielfach als Hüter des Waldes gelten (siehe Carmen Josse im Schwerpunkt von D+C/E+Z 2019/02). Heute werden die Nachkommen der Andamanen-Kulturen jedoch „besonders gefährdete indigene Gruppen“ (particularly vulnerable tribal groups – PVTGs) genannt (siehe Kasten).

Die Onge

Die Onge bilden ein kleines indigenes Volk auf Little Andaman. 2011 hatte es laut  Volkszählung nur noch 101 Mitglieder. Dem Gesetz zufolge gehört dieser indigenen Gemeinschaft ein großer Teil der Insel. Sie hat das Recht, dort in Harmonie mit dem Ökosystem zu leben, wie das ihrer seit Jahrhunderten überlieferten Lebensweise entspreicht.

Am zweiten Weihnachtstag 2004 verwüstete ein Tsunami die Küsten des Indischen Ozeans. Die Katastrophe zeigte, wie gut die Onge ihre Umwelt kennen. Die gewaltige Flut spülte ihre Hütten weg und es wurde befürchtet, sie seien alle umgekommen. Doch jeder einzelne Onge überlebte. Zu ihrem traditionellen Wissen gehört nämlich, dass Menschen landeinwärts fliehen müssen, wenn sich das Meer von der Küste zurückzieht, weil es danach schnell und heftig zurückschlägt.

Wegen der geringen Anzahl der Onge ist das Überleben ihrer Kultur gefährdet. Jüngste Pläne aus der weit entfernten Hauptstadt Neu-Delhi könnten sie ganz verdrängen. Wahrscheinlich würde ihre Umsetzung sogar vielen das Leben kosten.

Zwei neue Megastädte sollen auf Little Andaman und Great Nicobar entstehen. Beide wären Freihandelszonen, die nach Beamtenvorstellungen mit globalen Wirtschaftszentren wie Singapur, Hongkong oder Dubai konkurrieren sollen.

Der Vorschlag für die Megastädte stammt von NITI Aayog, einer einflussreichen Denkfabrik der Regierung. NITI steht für „National Institution for Transforming India“ (Nationale Institution zur Umgestaltung Indiens), und Aayog bedeutet „Kommission“ auf Hindi. Die Planer sehen zudem Chancen für die Entwicklung des Tourismus. Die Inselgruppe liegt in der Nähe von international beliebten Urlaubsorten in Thailand und Malaysia.

NITI Aayog verspricht, dass beide Urbanisierungsprogramme „nachhaltig“ sein werden. Es ist jedoch weder sicher, dass die Wirtschaftstätigkeit überhaupt im großen Stil in Gang kommt, noch, dass sie von Dauer sein wird. Falls doch, sind schwere Umweltschäden unvermeidlich. In jedem Fall werden die Onge einer erheblichen Gefahren ausgesetzt sein.

Die Vision prosperierender neuer Megastädte ist faszinierend (siehe Hans Dembowski’s Blogpost). Viele Inder würden gerne in modernen Städten leben und die Vorteile guter Infrastruktur genießen. Allerdings liegen die Andamanen und Nikobaren sehr weit vom indischen Festland entfernt. Die neuen Freihandelszonen könnten also nicht von der Nähe zum riesigen indischen Markt profitieren. Hongkong hingegen ist Teil des dicht besiedelten und hochindustrialisierten Perlflussdeltas in China, und Singapur dient als Finanzzentrum für seine Nachbarn Malaysia und Indonesien.

Heute leben nur etwa 17 000 Menschen auf Little Andaman. Zuwanderung vom indischen Festland würde die Ökologie der Insel dramatisch verändern. Es müssten nicht einmal Hunderttausende sein. Selbst wenn statt einer Millionenmetropole nur  eine neue Großstadt entstünde, würde das die Onge verdrängen.

Den Plänen zufolge würde die städtische Infrastruktur auf Little Andaman etwa 30 Prozent des Gebiets der Onge einnehmen. Außerdem könnten sie leicht Krankheiten erliegen, gegen die sie nicht immun sind.

Zivilgesellschaftlicher Alarm

Survival International, eine in London ansässige Menschenrechtsorganisa­tion, schlägt Alarm. Sie besteht darauf, dass das Land der Onge nicht erschlossen werden darf, ohne dass das indigene Volk vorher frei und auf Basis solider Information zugestimmt hat. Die Onge haben das Recht, alle ihr Gebiet betreffenden Pläne zu prüfen und das letzte Wort zu behalten.

Obwohl der neue Ballungsraum offiziell als „nachhaltig“ angepriesen wird, sagt Sophie Grig von Survival International: „Nichts daran sieht besonders nachhaltig aus.“ NITI Aayog’s Pläne beinhalten einen internationalen Flughafen, Casinos, Anlegeplätze für Kreuzfahrtschiffe, einen Freizeitpark, Hotels, Golfplätze und sogar ein Opernhaus.

Am schlimmsten ist, dass die offiziellen Pläne nicht die freie, vorherige und informierte Zustimmung der Onge vorsehen. Den Dokumenten zufolge könnten derzeit geschützte Gebiete des Volkes einfach „abgemeldet“ werden, wodurch die Gemeinschaft ihre Rechte verlieren würde. Im Vorschlag heißt es unverblümt: „Falls notwendig, können die Volksangehörigen auf andere Teile der Insel umgesiedelt werden.“

Nicht alle Beamte sind von den Urbanisierungsplänen überzeugt. Nilanjan Khatua, beim Forschungsinstitut Anthropological Survey of India zuständig für die Andamanen und Nikobaren, sagt, es sollte eine Folgenabschätzung geben, bevor die Pläne umgesetzt werden.

Vivek Rae, der ehemalige Chefsekretär der Zentralregierung für die Andamanen und Nikobaren, ist dagegen von den groß angelegten Stadtentwicklungsplänen begeistert. Er spricht von „strategischen Vorteilen“ und „großem ungenutzten Wirtschaftspotenzial“. In seinen Augen hat Indien die Inseln viel zu lange vernachlässigt.

Tatsächlich wurden die Inseln bisher kaum entwickelt, weil sie so abgeschieden liegen und wenige Inder dort hinziehen wollten. Außerdem gibt es starke seismische Aktivität – allein im September 2021 wurden zwei Erdbeben registriert. Das erste hatte eine Stärke von fast 4 auf der Richterskala, das zweite überschritt die Stärke 5.

Die Andamanen und Nikobaren beherbergen noch immer viele Wildtiere. Während die Ökosysteme bislang überlebt haben, sind indigene Völker, die von ihnen abhängen, bereits verschwunden – oder werden das wahrscheinlich bald sein.


Link
Survival International / Webseite zu den Onge:
https://www.survivalinternational.de/indigene/onge


Anup Dutta ist ein indischer Journalist.
Twitter: @duttanup

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