Armut

Mangelhafte Konzepte

Arme Menschen werden meist nicht danach gefragt, wie sie ihre Situation selbst wahrnehmen – weder von Mitarbeitern von Entwicklungsorganisationen noch von Wissenschaftlern. Das schränkt unser Verständnis von Armut ein und verzerrt die Politikgestaltung.
Im ägyptischen Kairo verdienen Müllsammler ihren Lebensunterhalt, indem sie Müll sammeln und sortieren. picture alliance/dpa-Zentralbild Im ägyptischen Kairo verdienen Müllsammler ihren Lebensunterhalt, indem sie Müll sammeln und sortieren.

Die Wissenschaftler Mariano Féliz und ­Aaron L. Rosenberg untersuchen in einem von ihnen herausgegebenen Buch, wie man arme Menschen mehr einbezieht. Sie argumentieren, dass Armut häufig als ein rein quantifizierbares Phänomen wahrgenommen wird. Das weithin akzeptierte Armutsmaß der Weltbank (weniger als die Kaufkraft von 1,90 Dollar pro Tag und Kopf) ist ein Beispiel. Armut ist aber mehr als ein Mangel an Geld. Für Subsistenzlandwirte etwa ist Geld weniger wichtig als andere Ressourcen. Das Armutsverständnis im Entwicklungsdiskurs ist für die beiden Wissenschaftler weit von der Erfahrung der Betroffenen entfernt.

Wie Jude Ssempebwa und Jacqueline Nakaiza in einem Buchkapitel argumentieren, sind viele Programme zur Armutsbekämpfung in Subsahara-Afrika gescheitert, weil die Perspektiven der Zielgruppen nicht berücksichtigt wurden. Programme zur Armutsbekämpfung sind effektiver, wenn sie die Betroffenen an der Gestaltung und Umsetzung beteiligen, argumentieren die Autoren.

Die betroffenen Personen nehmen sich vielleicht nicht als arm wahr, auch wenn die wissenschaftliche Definition etwas anderes sagt. Mitarbeiter in Entwicklungsorganisationen vernachlässigen die Ressourcen armer Menschen, bemängeln Ssempebwa und Nakaiza. Arme Menschen sollten nicht als passive Konsumenten, sondern als Handelnde gesehen werden.

In einem weiteren Kapitel analysieren Pablo E. Pérez und Brenda Brown den Wandel in den Sozialschutzsystemen in Lateinamerika. Die Einführung von Conditional-Cash-Transfer-Programmen seit den 1990er Jahren hatte ihrer Ansicht nach nur begrenzten Erfolg. In diesen Programmen erhalten arme Familien Geld unter der Bedingung, dass sie ihre Kinder zur Schule oder zu Gesundheitsdiensten schicken. ­Außerdem versuchen sie die Berufsaussichten von Arbeitslosen zu verbessern, indem sie Geldleistungen mit der Teilnahme an Trainingsmaßnahmen verknüpfen.

Solche Programme könnten zwar die Schwere der Armut verringern, meinen die Autoren, Menschen blieben aber weiterhin arm. Sie könnten ihre Grundbedürfnisse besser decken, sozialer Aufstieg sei aber nicht möglich. Die Transferprogramme dienen dazu, arme Menschen zu kontrollieren und zu steuern, kritisieren Pérez und Brown. Sie finden es problematisch, dass Menschen nachweisen müssen, dass sie es Wert sind, unterstützt zu werden.

Innocent Chirisas Forschung zu Urbanisierung in Afrika zeigt, dass arme Menschen resilient und handlungsfähig sind. Armensiedlungen rund um afrikanische Städte seien angewachsen, was neue Herausforderungen mit sich bringe. Viele Bewohner hätten keinen Zugang zu einer angemessenen Grundversorgung mit Wasser und Sanitäranlagen, Elektrizität oder Transport. Zudem befänden sich informelle Siedlungen häufig auf ungenutzten Deponien und Feuchtgebieten, die anfällig für Überschwemmungen sind.

Dennoch nutzten Bewohner ihre Chancen, schreibt Chirisa. Zum Beispiel erwirtschafteten Menschen in Addis Abeba, der Hauptstadt Äthiopiens, Einkommen durch stadtnahe Landwirtschaft und Gartenbau. Sie versorgten mit ihren Erzeugnissen städtische Märkte. Studien zeigten, dass sie rund ein Drittel des in der Stadt konsumierten Gemüses produzieren.

Township-Bewohner in Südafrika sind ein weiteres Beispiel. Laut Chirisa verdienen sie ihren Lebensunterhalt, indem sie Waren verkaufen, Geschäfte betreiben und Reparaturen anbieten. Politische Entscheidungsträger sollten in der Gestaltung von Verwaltungssystemen Innovationen der Bewohner informeller Siedlungen berücksichtigen.

Das Buch zeigt, dass Armut kein dauerhafter Mangelzustand ist und nicht nur ökonomisch definiert werden kann. Es ist wichtig, „die Armen“ als aktive Menschen anzuerkennen, die ihre Situation mit eigenen innovativen Mitteln angehen. Darüber hinaus gibt es vermutlich keine universelle Idee des guten Lebens, die von oben durchgesetzt werden kann und soll – weder von nationalen Regierungen noch von internationalen Gebern. Entwicklungsanstrengungen sollten die Perspektiven der Zielgruppen berücksichtigen, um effektiver zu sein.


Buch
Féliz, M. und Rosenberg, A. L. (Hrsg.), 2017: The Political Economy of Poverty and Social Transformations of the Global South. Stuttgart, ibidem-Verlag.

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