EU Erweiterung

Wachhund und Kooperationspartner

Die kommunistischen Regime in den Ländern Mittel-, Ost- und Südosteuropas unterdrückten die Zivilgesellschaft fast vollständig. Es galt das Motto „der Staat ist alles, der Bürger ist nichts“. Daher ist der Aufbau einer aktiven Zivilgesellschaft für die Transformation dieser Länder von totalitären oder autoritären Einparteienstaaten zu demokratischen Rechtsstaaten von zentraler Bedeutung – nicht zuletzt, was Justiz- und Rechtsreformen angeht. Die Beispiele Rumänien und Bulgarien belegen, dass sich der Beitritt dieser Länder zur EU positiv auf die Entwicklung der Zivilgesellschaft ausgewirkt hat.


[ Von Stefanie Ricarda Roos ]

Zivilgesellschaftliche Akteure können die staat­liche Reformpolitik nicht ersetzen. Sie können aber wichtige Impulse geben und korrigierend eingreifen. Voraussetzung dafür ist allerdings eine vertrauens- und respektvolle Kooperation zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren. Der Weg dorthin ist in Ländern mit einer totalitären oder autoritären Vergangenheit ein langwieriger Prozess.

Insbesondere muss der Zivilgesellschaft der Spagat gelingen zwischen ihrer Rolle als Watch-Dog, also des Wächters, und der des Kooperationspartners. Das ist mitunter schwierig. Am Beispiel der beiden jüngsten Mitgliedsländer der Europäischen Union (EU) – Bulgarien und Rumänien – wird dies deutlich. Beide Länder sind erst am 1. Januar 2007 der EU beigetreten, und in beiden Ländern ringt die Zivilgesellschaft – mit Juristen an der Spitze – um Rechtsstaatlichkeit.

Staatliches Selbstverständnis

Eine große Hürde, die Rumänien wie Bulgarien zu überwinden hatten oder immer noch haben, ehe zivilgesellschaftliches Engagement im Justizaufbau möglich ist, ist das überzogene Autoritätsverständnis vieler staatlicher Institutionen. In Rumänien beispielsweise hat 2005 eine Gruppe reformorientierter rumänischer Juristen den Verein „Society for Justice – SoJust“ gegründet. Diese Nichtregierungsorganisation (NRO) ging aus einer Internet-Diskussionsgruppe hervor, an der sich rumänische Richter, Staatsanwälte, Mitglieder des offiziellen Selbstverwaltungs­organs der Justiz, die damalige Justizministerin des Landes, Rechtsanwälte, Journalisten, Politologen und Studierende beteiligt hatten.

Die aktivsten Mitglieder der Gruppe gründeten SoJust aus der Überzeugung heraus, dass das rumänische Justizsystem in einer Krise stecke. Aus ihrer Sicht hat die Verzögerung nötiger Reformen zur Bildung einer der Vergangenheit verhaftet gebliebenen Justizoligarchie geführt. Diese entziehe sich ihrer gesellschaftlichen Verpflichtung und sei nur auf ihren eigenen Vorteil aus.

SoJust wollte zu einer echten und umfassenden Reform des rumänischen Justizsystems beitragen und veröffentlichte im Herbst 2006 einen knapp 200 Seiten umfassenden Bericht über die Lage der rumänischen Justiz. Darin wird ausführlich die Arbeit aller Justizinstitutionen und Rechtsberufler einschließlich des juristischen Ausbildungssystems untersucht.

Beim Obersten Rat der Magistratur Rumäniens (CSM) löste der Bericht heftige Kritik aus. Der Rat ist das Selbstverwaltungsorgan der Justiz. Er hat den verfassungsmäßigen Auftrag, die Unabhängigkeit der Justiz zu garantieren. Nahezu alle mittel-, ost- und südosteuropäischen Transformationsländer haben derartige Kontrollorgane eingeführt oder mit neuen Befugnissen ausgestattet, um die Unabhängigkeit der Justiz zu schützen – vor allem gegenüber der Regierung.

Der rumänische Magistratsrat reagierte auf die Veröffentlichung des SoJust-Berichtes unmittelbar mit einem Kommuniqué. Er warf SoJust vor, den Bericht erstellt und veröffentlicht zu haben, ohne dazu befugt oder von den Magistraten des Landes ermächtigt worden zu sein. SoJust habe den CSM, der auf Initiative der EU hin mit neuen Befugnissen ausgestattet worden sei, destabilisieren wollen – und damit den einzigen Garanten für die Unabhängigkeit der Justiz.

Diese Kritik des CSM verdeutlicht das besondere Autoritätsverständnis dieses Kontrollorgans. Aus seiner Sicht liegt das Monopol für Analyse und Bewertung des Justizsystems einzig beim Rat und deren Mitgliedern, also bei Richtern und Staatsanwälten. Dieses Selbstverständnis staatlicher Institutionen ist in kommunistischen Staaten typisch – und es hat sich auch nach der Wende erhalten. Damit sich das ändert, muss vor allem das Personal innerhalb dieser Institutionen ausgetauscht werden.

Der Justizbericht von SoJust fand aber viel Anerkennung und Wertschätzung auch aus Justizkreisen – unter anderem erhielt er den „Preis der Zivilgesellschaft“ der rumänischen Initiative „Gala Societatii Civil“. Auch der CSM meldete nach eingehender Studie des Berichts Anfang Dezember 2006, dass es künftig „einer engeren Zusammenarbeit durch Dialog mit allen NROs (bedarf), die auf dem Gebiet der Justiz­reform tätig sind“.

Bis dahin war es jedoch noch ein weiter Weg. Einer echten „Zusammenarbeit durch Dialog“ stand nicht zuletzt das beiderseitige Misstrauen entgegen. Auch das Kontrollbedürfnis des CSM und anderer staatlicher Institutionen ist nicht zuträglich. Zumindest aber hat der CSM mit seiner Erklärung formell anerkannt, dass eine Zusammenarbeit staatlicher und nichtstaatlicher Akteure unerlässlich ist.

Tatsächlich gab es in den vergangenen drei Jahren positive Entwicklungen. Ende 2008 etwa lud der Magistratsrat auf dem Gebiet der Justizreform tätige Vertreter von NROs zu einem „Runden-Tisch-Gespräch“ ein. Dabei sollten Hauptprobleme im Gerichtswesen, vor allem im Bereich Personal, diskutiert werden. Kurz zuvor hatte bereits der rumänische Justizminister nichtstaatliche Akteure zu einem Gespräch in seinem Ministerium empfangen.

Formalismus

Ein weiteres Hindernis für nachhaltige Justizreformen ist der Rechtsformalismus. Er äußert sich darin, dass Reformen in der Substanz oft nur wenig bis gar nichts bewirken. Sie erschöpfen sich häufig in bloßen Gesetzesänderungen und Aktionsplänen, die keinen wirklichen Wandel herbeiführen.

Der Formalismus spiegelt sich auch in bedenklichen Entwicklungen im Justizsystem wider: Richter werden nach rein formalen Kriterien zu Präsidenten bedeutender Gerichte ernannt – ohne jegliche ethische oder moralische Bedenken. Auch dies ist ein Relikt aus alten Zeiten. Ein junger bulgarischer Jurist, der für die engagierte Rechts-NRO „Bulgarian Institute for Legal Initiatives (BiLI)“ arbeitet, hat dieses Phänomen auf den Punkt gebracht: „Der Rechtsstaat wird durch einen alltriumphierenden Rechtsformalismus ersetzt.“

Viele in Bulgarien und Rumänien im Bereich Rechtsstaat und Justizreform tätige NROs wollen das ändern. So etwa die Initiative einer Gruppe reformorientierter bulgarischer NROs, zu denen unter anderem Transparency International, das Open Society Institute-Sofia, das Centre for Liberal Strategies, BiLI und das Centre for the Study of Democracy zählen.

Im November richteten sie einen offenen Brief mit dem Titel „20 Jahre nach dem 10. November 1989 – 20 Jahre fehlgeschlagener Versuche, eine Justizreform zu verwirklichen“ an hochrangige Persönlichkeiten. Die Adressaten waren der Premierminister, der Parlamentspräsident, die Justizministerin und Mitglieder des Obersten Justizrats Bulgariens. Die Autoren riefen zum offenen und strukturierten Dialog zwischen Vertretern staatlicher Institutionen und der Zivilgesellschaft über die Reform des bulgarischen Justiz­systems auf.

Als Prioritäten für den Reformdialog nennen sie Unabhängigkeit der Justiz einschließlich einer verantwortlichen Verwaltung des Gerichtswesens sowie die Effektivität des Obersten Justizrates. Diese Punkte zählen zu den Kriterien, die die Europäische Kommission für das Nachbeitritts-Monitoring gegenüber Bulgarien aufgestellt hat.

Erst wenn Bulgarien diese Kriterien erfüllt, wird die Europäische Kommission das Kontroll- und Kooperationsverfahren einstellen, das seit dem Beitritt des Schwarzmeer-Landes zur EU besteht: Als Bulgarien und Rumänien der EU beigetreten sind, wiesen beide Länder unter anderem im Bereich Justiz erhebliche Defizite auf. Die Europäische Kommission hat daher eine besondere Regelung für die Zusammenarbeit und Überprüfung der Fortschritte geschaffen, die diese Länder auf dem Gebiet Justiz sowie bei der Bekämpfung von Korruption und organisierter Kriminalität erzielt haben.

Der offene Brief der bulgarischen NROs löste heftige Kritik aus. Sie war weniger inhaltlich begründet als formell, und das nicht ganz zu Unrecht, denn in der Sache waren die Adressaten mit den Inhalten weitgehend einverstanden. Offene Briefe dienen üblicherweise dazu, staatliche Institutionen oder Personen des öffentlichen Lebens mit Missständen, gebrochenen Versprechen oder verpassten Chancen zu konfrontieren, oder aber um den Adressaten zu einem – aus Sicht der Verfasser – notwendigen Handeln zu bewegen. Angenehm sind offene Briefe für die Empfänger nie. Deshalb stellt sich immer die Frage, ob ein „offener Brief“ förderlich für einen konstruktiven Dialog ist. Verständlich ist aber auch, dass viele zivilgesellschaftliche Akteure in den Transformationsländern dieses Instrument, das dem Prinzip der Rede- und Meinungsfreiheit entspricht, gerne nutzen.

Im Falle Bulgariens haben die NROs auf diesem Weg trotz starker Kritik ihr Ziel erreicht. Kurz nach Veröffentlichung des Briefes luden die NROs, die das Schreiben verfasst hatten, im Dezember Vertreter der wichtigsten Justizinstitutionen Bulgariens sowie des Parlaments zu einem runden Tisch in Sofia ein, um die Themen des offenen Briefs zu diskutieren. Dieses Gespräch wurde als „das wichtigste Ereignis im Bereich der Justizreform im gesamten Jahr 2009“ wahrgenommen.

Am runden Tisch nahmen die Präsidenten des Obersten Gerichts teil, auch des Oberverwaltungsgerichts und der Rechtsanwaltskammer, der Sprecher und Mitglieder des Obersten Justizrates, der Vizepräsident des Nationalen Parlaments, der Vorsitzende der politischen Partei „Order, Lawfulness, Justice“, Vertreter des Justizministeriums, Medienvertreter und NROs. Nennenswertes Ergebnis sind die konkreten Reformvorhaben, die die Teilnehmer – wie etwa der Sprecher des Obersten Justizrates – für ihre jeweiligen Institutionen formuliert haben. Hierzu zählen der Vorschlag, das Verfahren zur Wahl der Mitglieder des Obersten Justizrates zu ändern: Künftig sollen zum Beispiel im Parlament öffentliche Anhörungen der Kandidaten unter Beteiligung von Experten und Vertretern der Zivilgesellschaft stattfinden. Ferner sollen der Ombudsmann, die Rechtsanwaltskammer und andere gesellschaftliche Institutionen Kandidaten für die Wahl zum Obersten Justizrat vorschlagen können. Ein Mitglied des bulgarischen Parlaments hat schließlich Verfassungsreformen in den die Justiz betreffenden Bereichen angeregt. Sie setzen die Aufhebung eines Urteils des Verfassungsgerichts Bulgariens voraus, wonach das Justizsystem nur von einer Großen Nationalversammlung – einem erweiterten Sonderparlament, das einzig zum Zwecke der Verfassungsänderung einberufen und danach aufgelöst wird – geändert werden kann.

Noch bleibt abzuwarten, wie sich die Initiative konkret auf die Justizreform in Bulgarien auswirken wird. Fest steht aber, dass den zivilgesellschaftlichen Akteuren in diesem Fall der Spagat zwischen Watch-Dog und Kooperationspartner gelungen ist: Ende Dezember fand in Sofia ein echter Dialog zwischen Staat und Zivilgesellschaft statt. Die NROs waren dabei weit mehr als nur ein Gegengewicht zur Staatsmacht. Vielmehr ist das als kleines Etappenziel zivilgesellschaftlicher Akteure in deren Ringen um die Rechtsstaatlichkeit anzusehen.

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