Gesundheit

Ein ferner Traum

Trotz beachtlicher Fortschritte ist Indiens Mütttersterblichkeitsrate noch zu hoch. Das Land hat das Millenniumsziel zu ihrer Reduktion nicht erreicht, und muss mehr tun, um das entsprechende Nachhaltigkeits-Entwicklungsziel (SDG – sustainable development goal) zu verwirklichen. Der augenblickliche Schwung ist gut, wenn er denn anhält.

Von Ipsita Sapra
Ein Mädchen mit dem Foto ihrer Mutter, die bei einer Geburt starb. Shehzad Noorani/Lineair Ein Mädchen mit dem Foto ihrer Mutter, die bei einer Geburt starb.

Schwangerschaft und Geburt sind ganz normale körperliche Vorgänge. Dennoch sterben täglich weltweit etwa 800 Frauen an Komplikationen. 2015 waren davon etwa 15 Prozent Inderinnen. Angesichts solcher Daten bedeutet Indiens eindrucksvolles Wirtschaftswachstum nicht viel.

Die Müttersterblichkeitsrate (MMR – maternal mortality ratio) beträgt derzeit 167 von 100 000. Das bedeutet, dass pro 100 000 Geburten 167 Mütter während der Schwangerschaft, der Geburt oder in den sechs Woche danach an Komplikationen sterben. Der aktuelle Wert ist zwar deutlich besser als der Vergleichswert von 1990 (560 per 100,000), aber um ihn dem Millenniumsziel entsprechend von 1990 bis 2015 um 75 Prozent zu senken, hätte er schon vor zwei Jahren 140 von 100 000 betragen müssen. Das SDG ist nun, die MMR bis 2030 auf 70 von 100,000 zu reduzieren. Dafür muss entschiedener gehandelt werden als bisher.

Müttersterblichkeit lässt sich fast vollständig verhindern. Estland hat mit zwei von 100 000 die beste MMR weltweit. Mit drei von 100 000 stehen Singapur und Griechenland auf Rang zwei.

Nötig ist ein gutes Gesundheitswesen. Zentrale Punkte sind

  • Entbindung in schwierigen Fällen im Krankenhaus,
  • Verfügbarkeit vielfältiger Verhütungsoptionen und
  • sichere Abtreibungsmöglichkeiten.

Zu den medizinischen Gründen von Müttersterblichkeit gehören Verbluten, Anämie, Sepsis, Geburtsstörungen und riskante Abtreibungen. Ursächlich sind aber tief sitzende sozio-ökonomische Gründe. In Indien liegt die MRR für die ärmsten Frauen, die zu den marginalisierten untersten Kasten und Adivasi-Stämmen gehören, zweieinhalb Mal über dem nationalen Schnitt.

Den amtlichen Statistiken zufolge herrscht besonders in ländlichen Gegenden genereller Ärztemangel – einschließlich von Frauen- und Kinderärzten und Geburtshelferinnen. Staatliche Dienste versagen in Adivasi-Gegenden besonders oft, und ein professionelles privates Gesundheitswesen gibt es dort auch nicht.

Die Community Health Centres (CHCs) für die arme Landbevölkerung sind meist schlecht ausgestattet und unterbesetzt. Oft fehlen sogar unentbehrliche Medikamente. Es gibt zu wenig Ärzte und Rettungssanitäter. Typischerweise hat ein CHC weder einen Kreißsaal noch einen Operationssaal und bietet auch keine Neugeborenenpflege an.

Erfolge und Misserfolge

Nicht alles Staatshandeln scheitert. Das Programm Janani Suraksha Joyana (JSY) hat geholfen, die MMR zu senken. Als Anreiz für Entbindung im Krankenhaus bietet es armen Familien Geld. Zu seinen Leistungen gehören pränatale und postnatale Versorgung und andere relevante Dienste für Frauen und Kinder. Sein Notfallsystem überweist Patientinnen bei Komplikationen an Fachkliniken und fordert, dass über jeden Tod einer Mutter ein Bericht angefertigt wird.

Das Programm hat aber auch Schwächen. Die wichtigste ist geradezu paradox. Für die schwierigsten Komplikationen stehen nun keine Kapazitäten mehr bereit, weil zu viele Frauen im Krankenhaus entbinden wollen. Da in armen Gegenden das Gesundheitswesen überlastet ist, wäre es besser, wenn Hebammen unkomplizierte Geburten öfter daheim betreuen würden. Es gibt einfach nicht genug Krankenhäuser.

Problematisch ist auch die Benachteiligung von Binnenmigrantinnen. Frauen müssen alle Geburtsdienstleistungen bei derselben Institution in Anspruch nehmen. Wer den Ort wechselt, wird nicht weiter betreut.

Das JSY ist zudem an Bedingungen geknüpft. Die Anreize gelten nur für Frauen ab 18 Jahren, obwohl viele Schwangere jünger ist. Frauen können das Programm auch nur zweimal in Anspruch nehmen; viele haben jedoch mehr Kinder. Im ländlichen Indien haben Frauen kaum Einfluss darauf, in welchem Alter sie heiraten oder wie viele Kinder sie haben. Viele haben auch keinen Zugang zu Verhütungsmitteln. Die JSY-Regeln bestrafen Frauen, die ihr Schicksal gar nicht selbst in der Hand haben.

Verhütung

Vielen Frauen fehlt nicht nur der Zugang zu Verhütungsmitteln – sie wissen auch kaum über die Möglichkeiten bescheid. Einige können nicht lesen. Die Männer kümmern sich in der Regel nicht um Verhütung und überlassen das Thema den Frauen. Allerdings dürfen Frauen bei solchen Dingen gar nicht mitreden. Folglich gibt es zu viele gefährliche Abtreibungen.

Die gebräuchlichste Methode der Familienplanung ist die Sterilisierung der Frau. Staatliche Stellen sind von dem Ziel besessen, das Bevölkerungswachstum zu bremsen, und machen den Beamten Vorgaben, wie viele Paare sie zu Familienplanung bewegen sollen. Die Beamten mögen irreversible Sterilisierung. Weil sich nicht alle Gesundheitseinrichtungen an grundlegende Hygieneregeln halten, kommt es zu Infektionen und manchmal auch Todesfällen. Der Staat hat es versäumt, weniger schwerwiegende Verhütungsmethoden wie Kondome oder Pillen bekannt und verfügbar zu machen.

UN-Daten zufolge ist in Indien die Sterilisierung der Frau die gebräuchlichste Methode der Familienplanung. 39 Prozent der Paare, die verhüten, greifen dazu. So hoch ist der Anteil nirgendwo sonst. Nur sechs Prozent verwenden Kondome. Männer werden fast nie sterilisiert, obwohl der Eingriff leichter ist. Die Gesellschaft ist bis heute davon traumatisiert, dass in den 1970er Jahren Männer massenhaft zwangssterilisiert wurden.

Die sozio-kulturellen Dimensionen der Müttersterblichkeit sind enorm. Einige medizinische Probleme beruhen schlicht auf Unterentwicklung. Relevant sind:

  • schlechte Bildung und ungenügender Zugang zu Informationen,
  • ungesunde Ernährung,
  • Nichtverfügbarkeit von Verhütungsmitteln,
  • frühe Ehen und Teenager-Schwangerschaften,
  • Unter- und Mangelernährung von Müttern,
  • viele Schwangerschaften,
  • gefährliche Sterilisationsmethoden und
  • riskante Abtreibungen.

Die Mängel des staatlichen Gesundheitswesen verschärfen geschlechtsspezifische familiäre Machtstrukturen. Arme Frauen brauchen bessere Dienstleistungen. Es muss ihnen ermöglicht werden, ihr Leben selbst zu bestimmen.

Neue Chancen

Erfreulicherweise hat der Misserfolg bei dem Millenniumsziel die Regierung wohl wach gerüttelt. Sie stellt nun mehr Fachkräfte für die Müttergesundheit im ländlichen Raum bereit. Callcenter für Notdienste sollen bald rund um die Uhr arbeiten. Innovationen mit moderner Technik werden in Adivasi-Gegenden getestet. Mobiltelefone und Social-Media-Plattformen wie WhatsApp dienen dazu, mehr Frauen zu erreichen. Darüber, wie einzelne Frauen pränatale Dienste nutzen, werden systematisch Daten erhoben.

Zivilgesellschaftliche Organisationen klären ihrerseits über diese Dinge auf. Sie machen auch Druck, dass die Gründe wirklich in jedem Fall von Müttersterblichkeit ermittelt werden, damit alle verstehen, was schief gelaufen ist. Der Staat muss darauf aber auch selbst achten. Wenn der aktuelle Schwung, den das Thema Müttersterblichkeit erfährt, anhält, wird Mutterschaft in Indien sicherer.

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