Bürgerkrieg

„Wegelagerer in Uniform“

Afghanistan muss künftig ohne die militärische Unterstützung der International Security Assistance Force (ISAF) auskommen. Aus Sicht des Friedens- und Konfliktforschers Conrad Schetter ist das Szenario kompliziert und düster.
Reste einer Autobombe im März 2015. picture-alliance/dpa Reste einer Autobombe im März 2015.

Afghanistan wird in westlichen Medien kaum noch genannt, wenn es um islamistische Gewalt geht. Nach dem 11. September 2001 galt es als die Hochburg des Terrorismus. Was hat sich verändert?
Die Wahrnehmung ist anders geworden. Über ISIS in Irak und Syrien, Al Shabaab in Somalia oder Boko Haram in Nigeria wird berichtet, über die Taliban eher nicht mehr.  Geschehnisse in Afghanistan oder Pakistan werden zurzeit nicht in diesen Zusammenhang gestellt.

Aber die Taliban bleiben gefährlich?
Sie werden sogar noch gefährlicher. Die Gewaltkonflikte verschärfen sich in Afghanistan mit dem Abzug der ISAF. Die Todeszahlen haben in den vergangenen Monaten um 20 bis 30 Prozent zugenommen. Den Taliban zurechenbare Gruppen tragen dazu bei.

Sind die Taliban denn noch eine religiös-fundamentalistische Organisation oder eher eine ideologisch diffuse Milizen-Organisation?
Islamistische Motive lassen sich sicherlich nicht trennscharf von anderen Motiven trennen, die mit der politischen Ökonomie Afghanistans zusammenhängen. Das ist aber bei ISIS oder Boko Haram auch nicht anders.

Sitzt der neue Präsident Ashraf Ghani mittlerweile fest im Sattel?
Das ist schwer zu sagen. Die Wahlauszählung war lange umstritten und wurde wiederholt, sodass es ein Vierteljahr dauerte, bis er als Sieger anerkannt wurde. Das hätte wohl noch länger gedauert, wenn er nicht ein von den USA vermitteltes Abkommen mit seinem Gegenkandidaten Abdullah Abdullah eingegangen wäre, um die Macht zu teilen. Abdullah Abdullah ist jetzt als Chief Executive so etwas wie ein Premierminister. Es hat dann nochmal sechs Monate gedauert, bis Ghani sein Kabinett Anfang des Jahres benannt hat. Das lag vermutlich auch mit daran, dass sich die beiden Spitzenpolitiker mit ihren enormen Egos jetzt immer einigen müssen. Wie effektiv die neue Regierung ist, lässt sich noch nicht abschätzen.

Wird sie am Zusammenstoß der beiden Egos scheitern?
Das muss nicht sein. Programmatisch sind sich Ghani und Abdullah nahe. Die enge Zusammenarbeit mit Abdullah hat auch den Vorteil, dass Netzwerke, die diesen unterstützen, einbezogen werden – also etwa die Nordallianz. Ghani und Abdullah haben auch beide im Westen studiert. Sie stehen modernen Ideen aufgeschlossen gegenüber.

Gibt es denn positive Signale?
Bemerkenswert ist, dass im neuen Kabinett die großen Namen der Warlords fehlen. Ghani scheint ein eher technokratisches Konzept zu verfolgen und Wert darauf zu legen, dass seine Leute etwas von ihrem Politikfeld verstehen. Sein Vorgänger Hamid Karsai war dagegen ein reiner Machtmensch.

Über ihn wurde aber immer wieder auch spöttisch gesagt, angesichts der schwierigen Sicherheitslage sei er eigentlich nicht viel mehr als ein Bürgermeister von Kabul. Reicht die Macht der neuen Regierung weiter?
Die Situation wird zunehmend fragiler. Die westliche Unterstützung nimmt in einem atemberaubenden Tempo ab, und zwar nicht nur, was das Militär angeht. In zwei Jahren muss die afghanische Polizei allein klarkommen. USAID zieht ab, die britische Entwicklungspolitik fährt ihr Engagement auch zurück. Die Karawane zieht weiter, sodass davon auszugehen ist, dass sich die Lage in Afghanistan in den nächsten Monaten weiter verschlechtern wird. Zwei Zahlen machen das Ausmaß der Krise deutlich: Militär und Polizei kosten den afghanischen Staat im Jahr etwa 4,5 Milliarden Dollar, er verfügt aber nur über Zoll- und Steuereinnahmen im Wert von 1,5 Milliarden Dollar. Wenn nicht irgendwo Geld herkommt, kann der Staat das aktuelle, jetzt bereits unbefriedigende Sicherheitsniveau nicht halten.

Sarkastisch könnte man sagen, die Lage wäre besser, wenn die Regierung die illegale Drogenwirtschaft besteuern könnte.
Da ist etwas dran. Es gibt aber derzeit einen höflichen internationalen Konsens, über die Drogenwirtschaft gar nicht zu sprechen. Sie bleibt aber ökonomisch enorm wichtig. Sie hat sich sogar weiter diversifiziert. Lange ging es nur um Opiumerzeugung, mittlerweile wird aber auch mit Haschisch viel Geld verdient. Klar ist auch, dass die Schwarzmarktwirtschaft die Gewalt mit anheizt. Die Kriminalisierung von Kleinbauern und -händlern hat viele Menschen zu den Aufständischen überwechseln lassen.

In den vergangenen Jahren haben wir in Deutschland immer wieder gesagt, dass der Westen Afghanistan nach dem Truppenabzug nicht allein lässt. Jetzt sieht es aber doch so aus.
Deutschland spielt eine eigene, positive Rolle. Die entwicklungspolitischen Zusagen der Bundesrepublik laufen über drei, vier Jahre. Das gibt der afghanischen Seite einen brauchbaren Planungshorizont. Leider fahren andere Länder ihre Unterstützung viel schneller zurück.

Das heißt, die Lage ist hoffnungslos?
Sie ist jedenfalls sehr schwierig. Relevant ist aber auch, ob es den Taliban künftig gelingt, ein neues Narrativ zu entwickeln. Bisher mobilisieren sie gegen „die Ungläubigen“ oder „die Amerikaner“.  Ob das in Zukunft funktionieren wird, ist sehr fraglich. Manche Gruppen unter ihnen können Präsident Ashraf Ghani durchaus etwas abgewinnen, zumal er auf die pakistanische Regierung zugeht, anstatt wie Karsai die Spannungen eher zuzuspitzen. Das Szenario ist sehr kompliziert.

Wie sieht denn die Lage in Pakistan aus?
Sie ist ebenfalls schwierig, zumal auch Indien durch die Unterstützung von Aufständischen in der Provinz Belutschistan involviert ist. Pakistan wiederum unterstützt die Taliban der Quetta Shura um Mullah Omar, die in Afghanistan aktiv ist, aber auch mit Rebellen liiert ist, gegen die die pakistanische Armee in Waziristan vorgeht. Wer mit wem in welchem Kontext verbündet ist, ist schwer zu durchschauen und kann sich auch schnell ändern. Es ist in der Grenzregion heute ähnlich wie im 19. Jahrhundert, als die Briten und Kabul verschiedene Stämme gegeneinander ausspielten.

Das westliche Engagement hat also seit 2001 nichts gebracht?
Die Erfolge drohen jedenfalls schnell wieder verloren zu gehen. Der zivile Abzug läuft zu schnell, um überhaupt so etwas wie die Regierbarkeit der Städte zu erhalten. Die Hoffnungen, schnell einen modernen Staat aufzubauen, waren überzogen. Das Ziel ist angesichts der ethnischen und religiösen Vielfalt des Landes, seiner geografischen Zerklüftung und seiner historischen Erfahrung enorm anspruchsvoll.

Heißt das, dass die schweren Menschenrechtsverstöße unvermeidlich waren, die afghanische Partner des Westens in den vergangenen Jahren verübt haben, wie Human Rights Watch neulich berichtet hat?
Hierbei handelt es sich um sehr tragische Begleiterscheinungen, die wir immer wieder in Postkonfliktsituationen feststellen können. Allerdings liegt dem auch eine bewusste Entscheidung im Falle Afghanistans zugrunde. So setzte die internationale Gemeinschaft in den letzten Jahren bewusst auf eine Crash-Kurs-Ausbildung für Sicherheitskräfte, bei der gerade Schulungen in Bereichen wie Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechten et cetera auf der Strecke blieben. Auf diese Weise generierte man „Wegelagerer in Uniform“ anstelle rechtstreuer Polizisten.

Wird das Rahmenabkommen der fünf permanenten Sicherheitsratsmitglieder und Deutschlands mit Iran über die Begrenzung der Nuklearkapazitäten Teherans Auswirkungen auf Afghanistan haben?
Man kann hoffen, dass auch Afghanistan zum Testfeld für eine weitere Annäherung zwischen den USA und Iran avanciert. So gibt es einige Herausforderungen wie etwa die Drogenökonomie oder das Erstarken der Taliban, in denen Teheran und Washington ähnliche Ziele verfolgen. Allerdings muss man auch sehen, dass Pakistan und Saudi-Arabien als langjährige Verbündete der USA in Afghanistan eigene strategische Ziele verfolgen und in Iran stets einen Gegner erblickten. So stellt Afghanistan ähnlich wie der Jemen ein Regionalkonflikt dar, in dem konfessionelle Identitäten für regionale Machtambitionen mobilisiert werden. In Afghanistan leben circa 20 Prozent Schiiten.

Es heißt, Bürgerkriege bluten nach 30 Jahren aus, weil die Menschen kriegsmüde werden und nicht mehr wissen, warum sie überhaupt gegeneinander kämpfen. Das scheint in Afghanistan nicht zu passieren.
Die Menschen sind kriegsmüde, seit 1979 wird ständig gekämpft. Es fehlt aber mittlerweile die Erinnerung an den Frieden. Im Südsudan ist das ähnlich. Es wäre aber falsch, wenn der Westen angesichts der Enttäuschungen Afghanistan aus den Augen verlieren würde. 


Conrad Schetter ist wissenschaftlicher Direktor des Bonn International Center for Conversion (BICC).
schetter@bicc.de

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