Global Governance

„Demokratische Staaten führen nicht Krieg gegeneinander“

Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine zeigt, dass das multilaterale System zu schwach ist, um Frieden sicherzustellen. In einem Interview hat Anna-Katharina Hornidge die Lage beurteilt. Sie ist die Direktorin des Deutschen Instituts für Entwicklung und Nachhaltigkeit (IDOS – German Institute of Development and Sustainability), das bis Ende Juni Deutsches Institut für Entwicklungspolitik hieß. Aus ihrer Sicht stehen wir in einem globalen Konflikt, bei dem irrationale Ansprüche rationale Entscheidungsprozesse behindern.

Die Menschheit steht vor globalen Problemen, die Nationalstaaten auf sich gestellt nicht lösen können. Drei wichtige Beispiele sind Klima, Pandemie und Krieg. Ist das Konzept der nationalen Souveränität hinfällig?
Nein, denn Russlands brutaler Angriff auf die Ukrainer zeigt, dass wir ein gemeinsames Verständnis von unverletzlichen Grenzen brauchen. Frieden ist die Voraussetzung für die Erreichung jedes einzelnen UN-Ziels für nachhaltige Entwicklung (SDG – Sustainable Development Goal), die zusammen eine einstimmig von allen Mitgliedsländern angenommene Vision des globalen Gemeinwohls beschreiben. Ihre Bedeutung haben wir beide vor zwei Jahren besprochen (siehe hierzu www.dandc.eu).

Allerdings ist das multilaterale System zu schwach, um den Frieden zu sichern. Wenn der Aggressor als ständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrats (UNSC – UN Security Council) Vetomacht hat, ist das System blockiert.
Ja, eine Reform des Sicherheitsrats ist nötig, aber schwer zu erreichen. Vermutlich sollte es gar kein Vetorecht geben. Ein guter Schritt in die richtige Richtung ist die Entscheidung, dass, wenn eine Regierung ihr Veto einlegt, sie dies in der UN-Generalversammlung begründen muss. Wichtig ist darüber hinaus, für die Repräsentation aller Weltregionen im UNSC zu sorgen. Afrika und Lateinamerika haben keine permanenten Mitglieder, aber die G7 sind überrepräsentiert. Dieses Ungleichgewicht spiegelt die weltpolitischen Kräfteverhältnisse am Ende des Zweiten Weltkriegs wieder, als die Entkolonisierung in Asien gerade erst begann und in Afrika noch nicht eingesetzt hatte. Das Missverhältnis schwächt die Legitimität des Sicherheitsrats.

Aber selbst wenn er gegen Russland entscheiden sollte, könnte er keine Sanktionen gegen eine Nuklearmacht durchsetzen.
Versuche, den Krieg mit militärischen Mitteln zu beenden, wären sicherlich nicht klug, aber Wirtschaftssanktionen funktionieren offensichtlich. In diesem weiteren Sinne betrifft der Krieg auch längst die ganze Welt. Die westlichen Sanktionen beißen, und Russland setzt strategisch auf Hunger. In dieser Situation wäre eine UNSC-Entscheidung gegen Russland wertvoll – zum Beispiel im Informationskrieg, der nicht nur, aber besonders intensiv im digitalen Raum geführt wird.

Wenn Souveränität heute mit Pflichten einhergehen soll, ist es nicht mehr dasselbe Konzept, das vor vier Jahrhunderten half, den verheerenden Dreißigjährigen Krieg zu beenden. Damals ging es darum, dass der jeweilige Landesherr tun konnte, was er wollte – und in diesem Kreis war keine Frau dabei. Verdienen globale Interessen heute nicht Vorrang vor nationalen?
Es ist im wohlverstandenen Eigeninteresse jeder Nation, globale Probleme in den Griff zu bekommen – und es gibt viele davon. Wenn die Menschheit sich dieser Aufgabe nicht stellt, wird jeder Nationalstaat schlechter gestellt. Wir brauchen mehr Zusammenarbeit, weil Alleingänge zu Katastrophen führen. Ohne Stärkung des multilateralen Systems ist es unmöglich, gemeinsame Lösungen auszuhandeln und Politik kohärent umzusetzen.

Die entsprechenden Strukturen zu schaffen, ist offensichtlich sehr schwierig – wir können Handeln aber nicht ständig weiter aufschieben.
Genau aus diesem Grund sehen wir das Entstehen diverser internationaler Allianzen und Clubs, die jeweils spezifische Probleme angehen sollen. Dazu gibt es aktuell auch keine Alternative. Die Politiker müssen aufpassen, dass diese Allianzen inklusiv gestaltet werden und das bestehende multilaterale System nicht untergraben.

Was heißt das konkret?
Die Allianzen müssen anschlussfähig sein und neue Mitglieder willkommen heißen, und dabei geht es auch um Privatsektor, die Zivilgesellschaft, Kommunen und andere subnationale staatliche Strukturen. Diese Allianzen dürfen nicht in kleinem Kreis Lösungen definieren und dann versuchen, sie der übrigen Welt aufzuzwingen. In diesem Sinne sind Climate Justice Partnerships vielversprechend. Beim Klimagipfel in Glasgow wurde eine solche Partnerschaft mit Südafrika beschlossen. Das entspricht multilateralen Beschlüssen im Kontext der multilateralen Klimarahmenkonvention (UNFCCC – UN Framework Convention on Climate Change), ist aber viel spezifischer.

Wie sollen wir mit skrupellosen Politikern und Propagandisten umgehen, die mit der Behauptung Karriere machen, globale Kräfte unterdrückten ihrer jeweilige Nation. In vielen Ländern tun Rechtspopulisten mit großem Erfolg so, als verteidigten sie ihr Volk gegen internationale Mächte. Das bedroht die Demokratie, weshalb ich finde, dass wir nur ein unvollständiges Bild zeichnen,  wenn wir den Ukrainekrieg als Kampf zwischen Despotismus und Demokratie bezeichnen. Dieser Kampf findet in vielen Ländern statt, und zwar auch innerhalb von EU-Mitgliedern und den USA.
Das stimmt. Glücklicherweise wurde Emmanuel Macron als französischer Präsident wiedergewählt, und Italien wirkt zurzeit stabiler als vielfach erwartet. In Ungarn und Polen ist die Situation schwierig, um es vorsichtig zu formulieren. Aktuelle Entwicklungen in den Philippinen, Indien und Brasilien sind besorgniserregend. Es ist in der Tat wichtig, klarzumachen, dass der Kampf zwischen Despotismus und Demokratie nicht nur in der Ukraine stattfindet. Es ist ein Kampf zwischen engstirnigem Egoismus und dem Gemeinwohl, zwischen Irrationalität und Rationalität. Vladimir Putin behauptet beispielsweise, die Ukraine gebe es gar nicht wirklich, weil Russlands historische Wurzeln vor Jahrhunderten in Kiew wuchsen. Wenn wir das ernst nehmen, könnte die Stadt Rom Anspruch auf halb Europa, Nordafrika und große Teile des Nahen Ostens erheben.

Was halten Sie von Putins Standpunkt, die NATO-Erweiterung habe berechtigte Interessen Russlands verletzt?
Das ist nur stimmig, wenn Russland Ansprüche auf eine Einflusssphäre hat, die es kontrolliert und die nicht zufällig weitgehend mit dem Zarenreich des 19. Jahrhunderts übereinstimmt. Die NATO-Erweiterung ist kein Resultat von US-Imperialismus. Die Beitrittsländer bestanden wegen ihrer historischen Erfahrung mit Russland auf Aufnahme. Wichtig ist auch, dass die historische Erfahrung zeigt, dass demokratische Staaten nicht Krieg gegeneinander führen.

Demokratisch gewählte Regierungen beginnen aber manchmal Kriege. Die USA und Britannien marschierten 2003 mit einer Koalition der Willigen in den Irak ein, um Saddam Hussein zu stürzen.
Das war ein großer Fehler und illegal, unter anderem weil es kein klares Mandat des Sicherheitsrats gab. Wäre aber Saddam Hussein den Irakern gegenüber rechenschaftspflichtig gewesen, hätte es vermutlich keinen Krieg gegeben. Eine gewählte Regierung hätte mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit internationale Inspektoren nach Massenvernichtungswaffen suchen lassen, denn sie hätte auf die öffentliche Meinung Rücksicht nehmen müssen. Die meisten Menschen wollen nicht für die militärischen Ambitionen eines Diktators sterben.

Weshalb tun sich dann so viele Regierungen von Ländern mit niedrigen und mittleren Einkommen so schwer damit, jetzt Partei gegen Russland zu ergreifen?
Ich denke, diese Ambivalenz hat mehr mit Misstrauen gegenüber westlichen Regierungen zu tun, als mit Sympathien für Russland. Das Misstrauen hat viele Gründe. Großenteils waren westliche Regierungen die Kolonialmächte, während die Sowjetunion verschiedene Befreiungsbewegungen unterstützte. Wichtiger ist aber möglicherweise das Muster, nach dem westliche Staaten viel versprechen, das sie später nur zögernd oder gar nicht erfüllen. Denken Sie nur an Entwicklungshilfe (ODA – official development assistance), Klimafinanzierung oder Impfstoffe. Westliche Regierungen beschwören globale Zusammenarbeit, wenn das für sie gut ist, verfolgen aber nationale Eigeninteressen, wenn ihnen das möglich ist. Sie betonen permanent Menschenrechte – nur dann nicht, wenn es um Geflohene geht. Das russische Regime lügt ständig und offensichtlich, aber westliche Doppelbödigkeit hat ebenfalls Vertrauen zerstört. In den Augen vieler Menschen ist sie gleich schlimm.

Aber es empört doch, wie offensichtlich Russland Menschenrechte und menschliches Wohlergehen missachtet.
Ja, und dabei geht es nicht nur um das Leid der Ukrainer und Ukrainerinnen. Es ist ebenso widerlich, wie unbekümmert die russische Führung Abertausende junger Männer opfert. Es steht für undemokratisches Regierungshandeln. Putins Nationalismus hat eine ausgeprägt zerstörerische Tendenz.

Was können westliche Regierungen tun, um Vertrauen zu schaffen – auch mit Blick auf die globalen Allianzen, die nötig sind, um weltweite Probleme anzugehen, und letztendlich auch die UN zu reformieren?
Vor allen Dingen müssen sie ihre Versprechen halten (siehe Imme Scholz auf www.dandc.eu). Um nur ein Beispiel zu nennen: vor einem Jahr versprach der G7-Gipfel in Cornwall 1 Milliarde Dollar für internationale Impfstoffbeschaffung, aber bis Januar sind davon nur 30 Prozent tatsächlich geflossen, wie wir kürzlich in einer gemeinsamen Publikation mehrerer Thinktanks ausgeführt haben (Kickbusch et al, 2022). Das war mitten in der weltweiten Pandemie. Wer feierlich abgegebene Versprechen nicht hält, kann von anderen kein Vertrauen erwarten. Das Problem ist wahrscheinlich größer, als westlichen Regierenden klar ist. Ihre Gesprächspartnerinnen und -parnter aus Entwicklungsländern wissen aber nicht nur, welches Leid die Klimakrise bei ihnen zu Hause verursacht. Ihnen ist auch klar, dass die wohlhabenden Nationen, also die Hauptverursachenden, ihre Treibhausgas-Emissionen in den 30 Jahren, seit die UNFCCC in Rio de Janeiro beschlossen wurde, nicht im nötigen Maß reduziert haben. Für Vertrauen ist Politikkohärenz zentral. Um in der globalen Arena überzeugend zu agieren, ist überzeugendes Handeln nötig – und das betrifft auch innere Angelegenheiten. Westliche Regierungen müsse die Transformation ihrer eigenen Länder zur Nachhaltigkeit beschleunigen.
 

Link
Kickbusch, I., Hornidge, A.-K., Gitahi, G., und Kamradt-Scott, A., 2022: G7 Measures to enhance global health, equity and security.
https://www.think7.org/wp-content/uploads/2022/05/issuepaper_Health_G7-Measures-to-enhance-Global-Health-Equity-and-Security_Kickbusch_Hornidge_Gitahi_Kamradt-Scott.pdf

Anna-Katharina Hornidge ist Direktorin des German Institute of Development and Sustainability (IDOS), dem früheren Deutschen Institut für Entwicklungspolitik. Sie ist zudem Professorin für globale nachhaltige Entwicklung an der Universität Bonn.
Twitter: @AnnaK_Hornidge
www.idos-rearch.de
 

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Um die UN-Ziele für nachhaltige Entwicklung zu erreichen, ist gute Regierungsführung nötig – von der lokalen bis zur globalen Ebene.