Dezentralisierung

Gemischte Gefühle

Peru bemüht sich seit der Rückkehr zur Demokratie im Jahr 2000 um die Dezentralisierung staatlicher Befugnisse. Zivilgesellschaftliche Organisationen haben zum Gelingen dieser Reform beigetragen, sind aber von den Ergebnissen enttäuscht. Es gibt heute deutlich mehr Bürgerbeteiligung als früher – aber im Land herrschen weiterhin große soziale Unterschiede.

Demokratie ist eine Voraussetzung für menschliche Entwicklung – und Demokratie braucht eine lebendige Zivilgesellschaft, die sich aktiv an politischen Entscheidungen beteiligen kann. In Peru engagieren sich regierungs­unabhängige Organisationen (non-governmental organisations – NGOs) seit langem für die Überwindung sozialer und regionaler Ungleichheit. Gleich nach dem Ende der autoritären Herrschaft des Präsidenten Alberto Fujimori im Jahr 2000 unterstützten viele die bereits in der Verfassung von 1979 vorgesehene Dezentralisierung des Staates. Bis 2004 wurden dann die gesetzlichen Grundlagen geschaffen.

Konsens war seinerzeit, Kommunen und Regionen gegenüber der Zentralregierung in Lima zu stärken, die direkte Mitwirkung der Bürger an Entscheidungen zu erweitern und die öffentliche Verwaltung zu modernisieren. Skeptiker gab es aber zuhauf. Aus NGO-Sicht sollte die Reform nicht dazu dienen, den Staat marktradikal auf Kernfunktionen zu reduzieren. Sie wollten etwas anderes – der Staat sollte die regionalen Ungleichgewichte beseitigen und für sozialen Ausgleich sorgen.

Inzwischen sind Macht und Aufgaben aus der Hauptstadt in die 25 Regionen mit fast 200 Provinzen und 1600 Distrikten verlagert worden. Dennoch gilt die Dezentralisierung weder als abgeschlossen, noch als frei von Widersprüchen. Im Auftrag von Brot für die Welt/evangelischer Entwicklungsdienst und der Escuela para el Desarrollo in Lima haben Javier Díaz-Al­bertini und Walter Melgar (2012) peruanische NGOs nach ihrem Beitrag zum Reformprozess befragt. Auf deren Studie stützen sich die folgenden Ausführungen.

Als Verantwortung aus der Hauptstadt Lima in die Regionen verlagert wurde, hegten die NGOs große Hoffnungen. Lokalbehörden, die Weisungen aus der Hauptstadt erhielten, hatten bis dahin arme Bauern oder Slumbewohner bestenfalls als Bittsteller behandelt. Jetzt bestand die Chance, dass Kommunalpolitiker und -beamte Bürger als Träger von eigenen Rechten sehen würden, die Nöte, aber auch Ansprüche haben. Öffentliche Dienstleistungen und Investitionen sollten sich endlich stärker am Bedarf der Bevölkerung orientieren. Es wurde vorstellbar, lokale Dynamiken gemeinsam mit Politik, Verwaltung und Bürgern in Gang zu setzen.

Aus NGO-Sicht sollte die Dezentralisierung des Staates der Demokratisierung der Gesellschaft dienen. Es ging ihnen also um viel mehr als um eine bloße Verwaltungsreform. Sie wollten die Grundlage für eine neue demokratische Kultur schaffen.

Partizipation ist bis heute der Aspekt der Dezentralisierung, der NGOs wichtig ist. Sie knüpften damit an ihre Arbeit mit Basisgruppen an, die schon ab den 70er und 80er Jahren nicht mehr darauf hatten warten wollen, dass der Staat Armuts- und Entwicklungsprobleme irgendwann angeht. Die NGOs hatten gelernt, dass sie selbst etwas ändern können, indem sie Projekte planen und umsetzen. Intern waren sie demokra­tischer verfasst als traditionelle Organisationen


Staat und Bürger stärken

Die Selbsthilfeerfahrungen der Basisgruppen kamen der Dezentralisierung zugute. Durch die Teilhabe an Entscheidungen sind Gesellschaft und Politik nun näher aneinandergerückt – zumindest auf der lokalen Ebene. Vielerorts nimmt die örtliche Bevölkerung heute Anteil an der Aufstellung von Kommunalhaushalten und wirkt in Gremien mit, um die Umsetzung zu  kontrollieren. Neue Prioritäten werden deutlich und führen zu eigenständigen Entwicklungsdynamiken und besseren Lebensbedingungen.

Die Resultate sind nicht überall gleich. Laut ­Gesetz können sich zivilgesellschaftliche Gruppen mit ­Politikern und Staatsdienern zu Entwicklungspläne der Kommunen und Regionen beraten. Tatsächlich funktioniert das nur dort gut, wo der politische Wille besteht, dass Beamte fortgebildet werden und sich NGOs und lokale Initiativen für die neuen Foren stark machen. Wo die Bürger öffentliches Handeln als transparent und positiv erfahren, wächst auch die Glaubwürdigkeit des Staates.

Dass Mitglieder von Basisbewegungen jetzt häufiger in öffentliche Ämter gewählt werden, ist ein weiterer Beleg für eine sich ändernde Beziehung zwischen Staat und Bürgern. An Boden verlieren Kandidaten aus Parteien, die sich um Hauptstadtpolitiker gruppieren und in der Provinz treue Gefolgschaft erwarten, die sie dann mit Patronage belohnen. Die peruanischen NGOs, die für die Dezentralisierung eintreten, sind untereinander gut vernetzt. Trotz unterschiedlicher Erfahrungen vor Ort haben sie gemeinsam Impulse gegeben, wie Díaz-Albertini und Melgar in der Studie zeigen (siehe Kasten).

Die NGOs sind heute überzeugt, dass die Dezentralisierung in Peru unumkehrbar ist. Das ist auch an der Finanzverteilung zu erkennen. 2009 waren kommunale und regionale Behörden für 74 Prozent aller öffentlichen Investitionen verantwortlich – 2004 betrug die Quote nur 34 Prozent. Zudem sind heute viele Kommunen und Regionen selbstbewusst genug, um den immer wieder auftretenden Rezentralisierungstendenzen der nationalen Regierung etwas entgegenzusetzen.

Auch die Bevölkerung besteht heute vielfach auf Partizipation – und ihre Ansprüche gehen über die bereits etablierten Mitbestimmungsfelder hinaus. Seit zehn Jahren hat Peru eine hohe ökonomische Wachstumsrate, und die Bevölkerung will, dass der neugeschaffene Wohlstand auch nach unten durchsickert. Ohne Konsultation der Betroffenen sind große Infrastrukturprojekte oder Investitionen in den Bergbau von Lima aus immer schwerer durchzusetzen.

Dennoch sind viele NGOs unzufrieden. Manche meinen, eine konsequentere Reform des Staatsapparates mit einer besser durchdachten Verteilung von Aufgaben und Finanzen zwischen den staatlichen Ebenen hätte mehr bewirkt. Die Kluft zwischen Arm und Reich bleibt in Peru viel zu groß, sodass es durch die Dezentralisierung nicht zu einem durchschlagenden Erfolg gekommen ist.


Skeptische ­Zivilgesellschaft

Mittlerweile fragen sich viele zivilgesellschaftliche Akteure, ob es ihre Aufgabe ist, das politische System funktionsfähig zu machen – denn die strukturellen Veränderungen, die soziale und regionale Ungleichheit überwindbar machen würden, bleiben aus. Vergeuden NGOs die Kraft armer Menschen, wenn sie deren Partizipation in Politikbereichen fördern und dies nur marginale Veränderungen bringt? Und kämpfen sie gegen Windmühlen an, weil Parteien und Verwaltung an der Vertiefung der Demokratie gar nicht interessiert sind und intransparente und klientelistische Praktiken weitertreiben?

Zu Beginn der Amtszeit von Präsident Ollanta ­Humala formulierten NGOs 2011 noch einmal Vorschläge, um die stockende Dezentralisierung wieder in Gang zu bringen. Sie messen den Erfolg der Staats­reformen weiterhin an gesellschaftspolitischen Zielen und nicht an simpler Effizienzsteigerung der Verwaltung. Leider ist die Zentralregierung auf ihre Ideen bisher kaum eingegangen.

 

Monika Huber war bis 2010 entwicklungs­politische Beauftragte im Berliner Büro des Evangelischen Entwicklungsdienstes.
hubermonikahuber@web.de

Wolfgang Kaiser ist Mitarbeiter im Referat Südamerika von Brot für die Welt/Evangelischer Entwicklungsdienst.
wolfgang.kaiser@brot-fuer-die-welt.de

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