Statistik

Neue Maßstäbe gesucht

Die EU-Kommission will das Bruttoinlandsprodukt um ökologische und so­zia­le Faktoren ergänzen: Oliver Zwir­ner arbeitet an einer Euro­pä­ischen Initiative über „Das BIP und mehr“. Der Re­fe­rent für „Indikatoren und Sta­tis­tik“ in der ökonomischen Abteilung der Ge­ne­raldirektion Um­welt erläutert im folgenden Artikel, um was es geht.

Die EU-Kommission denkt schon seit 2007 über neue Maßstäbe für den gesellschaftlichen Fortschritt in Europa nach. Der Untertitel eines im August 2009 veröffentlichten Strategiepapiers verdeutlicht, um was es geht: „Die Messung des Fortschritts in einer Welt im Wandel“. Keine Reform der Berechnungsformel zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) also, sondern zusätzliche, umfassendere Kennzahlen für Wohlstand und gesellschaftlichen Fortschritt.

Die politische Debatte darüber ist längst entbrannt. Nobelpreisträger fordern neue Maßstäbe für sozio-ökonomische Entwicklung. Die OECD unterstützt deren Bemühungen. In Deutschland, Frankreich, England, Österreich, aber auch China und Indien finden Überlegungen statt. Als ­jüngste Initiative wurde vom deutschen Bundestag eine Enquête-Kommission eingesetzt, die klären soll, welches Wachstum zählt und welche Indikatoren dabei helfen. Letztlich geht es darum, dass Regierungen und Parlamente, aber auch Rathäuser oder Unternehmen, andere Daten brauchen, um vernünftiger zu handeln.

Kein Zweifel: Die Berechnung des BIP, basierend auf solider Statistik, bleibt sinnvoll. Wir müssen auch weiterhin so genau wie möglich wissen, wie viele Güter und Dienste am Markt umgesetzt werden. Nur dass wir uns vom Gedanken verabschieden, dass ein höheres BIP immer auch einen gesamtgesellschaftlichen „Gewinn“ erzeugt. In diesem Bewusstsein sind Unternehmen den Volkswirtschaftlern teilweise voraus. Wer etwa Sachkapital in seinem Betrieb veräußert, würde nie auf die Idee kommen, diese Einnahmen einfach als Gewinn zu verbuchen. In gewisser Hinsicht rechnen aber Volkswirtschaftler so. Regierungen müssen wie Unternehmer begreifen, dass „mehr Umsatz“ nicht ausreicht, unser volkswirtschaftliches Endergebnis positiv zu gestalten.

Ein heute schon klassisches Beispiel: Durch den Hurrikan Katrina kamen 2005 in den USA etwa 1 800 Menschen ums Leben. Sachschaden: 81 Milliarden Dollar. Gleichzeitig wuchs im Zusammenhang mit den Wiederaufbauarbeiten das BIP um circa 0,5 Prozent. Auch Regenwälder im Amazonas abzuholzen steigert das BIP. Dabei geht in Wahrheit natürlich Kapital verloren. So schaut das BIP in vielen Fällen einfach nur auf „Einnahmen“ – anstatt auf Wohlstand und auf die darunterliegende Substanz.

Im BIP nicht angemessen berücksichtigt wird vor allem der Verlust an Gütern – insbesondere an Naturgütern und Rohstoffen – wie die obigen Beispiele zeigen. Aber auch die Verteilung von Einkommen sowie von Gesundheit, Bildung, Freizeit und Umweltqualität auf die jeweilige Bevölkerungsgruppe werden vom Durchschnittswert des BIPs nicht dargestellt. Darüber hinaus fehlen im BIP unbezahlte Leistungen, wie sie Haushalte oder gemeinnützige Vereine erbringen.

Das Strategiepapier der EU-Kommission wird derzeit im Europäischen Parlament (EP) diskutiert. Wegen der weitreichenden Bedeutung einer umfassenden Messung von Wohlstand und Lebensqualität haben sich sechs Ausschüsse eingebracht. Eine endgültige Stellungnahme des Plenums ist nun für März 2011 vorgesehen. Parallel dazu diskutieren die EU-Gesetzgeber einen Rechtsrahmen für eine Umweltökonomische Gesamtrechnung (UGR). Damit würden vorhandene Umwelt- und Wirtschaftsdaten direkt vergleichbar. Erfasst werden sollen physikalisch-technische Größen über Emissionen und Ressourcenverbräuche sowie bezahlte Umweltsteuern für rund 60 Branchen.

Auch die Regierungen aller EU-Mitgliedsstaaten haben diese Anregungen im Rat der EU positiv aufgenommen. Sie haben erkannt: Gute Informationen verbessern die Effizienz von Märkten, die Innovationskraft der Wirtschaft und öffentliche Entscheidungen. Diese Informationen sind unerlässlich, um den Wandel zu einer kohlenstoffarmen und ressourceneffizienten Wirtschaft und Gesellschaft zu steuern. Dabei wird insbesondere die Frage wichtig sein: Welche Branche hängt in welchem Maße von Umweltfaktoren ab? Ins Auge springen als Ers­tes die Land- und Forstwirtschaft sowie die Fischerei und der Tourismus. Viele weitere Branchen sind aber genauso abhängig von der Verfügbarkeit natürlicher Ressourcen; die Lebensmittel- wie die Textilindustrie zum Beispiel hängen von genügend und sauberem Wasser ab. Auch dies berücksichtigt das BIP nicht genügend – es bedarf deshalb einer Ergänzung.

Oliver Zwirner

Die in diesem Artikel vertretenen Ansichten geben nicht notwendigerweise die offizielle Position der Europäischen Kommission wieder.

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