Europäische Presseschau

Realpolitik ohne Begeisterung

Im März hat die EU ein Abkommen mit der Türkei geschlossen, um den Zustrom von Flüchtlingen zu begrenzen. Der zentrale Punkt des umfangreichen Pakets ist, dass alle irregulär in Griechenland ankommenden Flüchtlinge in die Türkei zurückgebracht werden, sofern sie dort nicht verfolgt und nicht rechtswidrig behandelt werden. Pro abgewiesener Person verpflichtet sich die EU einen syrischen Flüchtling aus der Türkei aufzunehmen – maximal aber 72 000. Außerdem sollen die Finanzhilfen für die Türkei aufgestockt, die Beitrittsverhandlungen dieses Landes zur EU wieder aufgenommen und türkischen Bürgern visafreie Einreise in die EU gewährt werden. Europäische Zeitungen äußern sich skeptisch darüber, ob die Probleme so gelöst werden:
Lächelnde Spitzenpolitiker in Brüssel am 18. März: Angela Merkel (Deutschland), Ahmet Davutoglu (Türkei), David Cameron (Britannien) und Mark Rutte (Niederlande). Hoslet/picture-alliance/dpa Lächelnde Spitzenpolitiker in Brüssel am 18. März: Angela Merkel (Deutschland), Ahmet Davutoglu (Türkei), David Cameron (Britannien) und Mark Rutte (Niederlande).

Il Sole 24 Ore, Mailand

Die europäische Quote bedeutet, dass die Zahl der täglich Ankommenden auf 200 reduziert werden muss – von derzeit 1100 und sogar 2000 vor nur zwei Monaten. Das soll die Türkei leisten. Damit das Abkommen nicht scheitert, muss sie mit den 40 Küstenwachtschiffen, die sie derzeit hat, 2600 Kilometer Ägäis-Küste kontrollieren. Das wird praktisch unmöglich sein, es sei denn, sie hält die Flüchtlinge ganz von der Küste fern und macht ihre Repression zu einem schlimmeren Albtraum als der Bürgerkrieg, dem die Fliehenden entkommen sind. Gemessen an der realen Zahl von 144 000 seit Jahresanfang, ist die europäische Quote alles andere als eindrucksvoll. (...) Die Türkei wird zwar zum Polizisten des Eingangs nach Europa, aber den Schlüssel dazu bekommt sie nicht. Sie versucht ihm aber näher zu kommen. Wenn das Land 72 Bedingungen erfüllt, werden seine Bürger Ende Juni mit Visa-Liberalisierung belohnt. (…) Die Europäer wetten insgeheim, dass Ankara in seinem Spurt zur Visumsfreiheit, die nur wenige EU-Mitglieder wollen – und Frankreich bestimmt nicht – straucheln wird. Zypern ist derweil jederzeit bereit, ein Veto gegen den Beitritt der Türkei zur Union zu erheben. Merkel und ganz Europa brauchten und brauchen aber so ein Abkommen, weil sonst das Ende von Schengen droht. Auch die Türkei brauchte das Abkommen, um angesichts der Syrienkrise und der zerbrochenen Beziehungen zu Russland ihrer diplomatischen Isolation zu entkommen. Also versuchen wir es. Die Realpolitik siegt – ohne Begeisterung.


Frankfurter Allgemeine Zeitung

Es war eine richtige Entscheidung, das Flüchtlingsabkommen zwischen der EU und der Türkei rasch in Kraft zu setzen. Hätte man nach dem Brüsseler Beschluss vom Freitag noch wochenlang gewartet, hätte das wahrscheinlich nur noch einmal zu einem großen Ansturm geführt. Viele Migranten hätten versucht, die vermeintlich letzte Chance zur Einreise nach Griechenland zu nutzen. Seit Sonntag wird nun aber – zumindest ist das die Absicht – dieses Einfallstor in die Europäische Union geschlossen. (…) Das Abkommen mit der Türkei ist weder politisch, rechtlich noch moralisch völlig zufriedenstellend. Es ist aber die bisher beste Handhabe, die Europa gefunden hat, um einen völlig inakzeptablen Zustand an seiner südlichen Außengrenze zu beenden und einem Ziel näher zu kommen, das doch (fast) alle wollen: den Zustrom zu verringern. Das teilen angeblich die vielen politischen Widersacher der Kanzlerin im In- und Ausland. Wem es um die Sache geht, wird abwarten, wie weit Merkels Plan trägt, der die EU-Staaten immerhin wieder etwas zusammengeführt hat.


Frankfurter Rundschau

Erdogan will in der Türkei ein Präsidialsultanat errichten, er könnte den außenpolitischen Erfolg in der Visa-Politik zu vorgezogenen Neuwahlen und der angestrebten Verfassungsänderung nutzen. Kollateralschaden nennt sich das wohl mit Blick auf Pressefreiheit, Menschenrechte und Erdogans Kurdenpolitik.  Ein weiterer Aspekt der Visa-Politik: Die Türkei rückt plötzlich näher an den grenzenlosen Schengenraum. (…) Der Schutz der europäischen Außengrenzen wird damit nicht leichter.


Het Financieele Dagblad, Amsterdam

Es ist zu hoffen, dass der Deal mit der Türkei auch wirkt, denn für die Umsetzung gibt es noch viele Hindernisse. Zunächst gibt es ein großes logistisches Problem. In Griechenland muss innerhalb von zwei Wochen eine enorme logistische Infrastruktur aus dem Boden gestampft werden, um Migranten aufnehmen, zu befragen und ihr Asylgesuch zu prüfen, bevor sie in die Türkei zurückgeschickt werden können. Es ist fraglich, ob das einem Land gelingt, das nicht gerade für seine effektive Verwaltung bekannt ist. Es ist auch zweifelhaft, ob sich Migranten wirklich durch das neue Abkommen mit der Türkei entmutigen lassen. Am Sonntag kamen wie immer marode Boote aus der Türkei an der griechischen Küste an. Migranten können auch andere Routen nehmen. Die EU sollte sich dessen bewusst sein. Die italienische Küstenwache musste dieses Wochenende wieder hunderte Flüchtlinge retten, die die Überfahrt von Nordafrika nach Europa wagten. Es gibt außerdem Routen über die Ukraine und sogar über Russland. Es könnte sein, dass die EU deshalb wieder mit dubiosen Regimen verhandeln muss.


El Pais, Madrid

Was wir in Europa jetzt erleben, reimt sich mit einer für Spanier sehr bitteren Vergangenheit. Das Lächeln von Merkel, Cameron und Hollande auf den Bildern aus Brüssel erinnert an das Lächeln des britischen Premierministers Chamberlain und die Krokodilstränen des französischen Sozialisten León Blum. (…) Internationale Gesetze werden verdreht, um die Asylvereinbarung zu umgehen und gleichzeitig so zu tun, als sei dies eine perfekt demokratische Maßnahme im Sinne des Gemeinwohls. (…) 1936 war es der drohende Krieg, der die demokratischen Mächte dazu brachte, die spanischen Demokraten ihrem Schicksal zu überlassen und später eine halbe Million politische Flüchtlinge in umzäunten Strandabschnitten unter freiem Himmel einzusperren. Die Geschichte lehrt uns, dass diese Schmach den zweiten Weltkrieg nicht verhindert hat – sondern obendrein das Selbstbewusstsein der Achsenmächte gestärkt hat. So scheint der Vertrag mit der Türkei nun wohl mehr Schaden anzurichten, als Nutzen zu stiften.


Financial Times, London

Die EU hat an diesem Tag nicht nur ihre Seele verkauft, sie hat das sogar zu ziemlich schlechten Bedingungen getan. (…) Das Abkommen mit der Türkei wird sich auch in der Debatte über das britische Referendum über die EU-Mitgliedschaft auswirken. Werden die  Befürworter des Ausstiegs nichts zur visumsfreien Einreise für 75 Millionen Türken zu sagen haben? Alle, denen Demokratie und Menschenrechte am Herzen liegen, werden dieses Abkommen hassen. Und das gilt ebenso für alle, die Angst vor deutscher Dominanz in der EU haben, denn es wurde von Angela Merkel initiiert. 


The Guardian, London

Es muss gesagt werden – auch weil es in zu vielen Ländern nicht klar genug oder gar nicht gesagt wird: Die Menschen, auf die es in der Flüchtlingskrise vor allem ankommt, sind die Flüchtlinge selbst. Das Abkommen, das am Freitag zwischen der Europäischen Union und der Türkei geschlossen wurde, muss also trotz aller weiterer politischen und sozialen Aspekten vor allem danach beurteilt werden, wie es die Menschen behandelt, die im Zentrum der Tragödie stehen. Vielfach wurden sie mit Bomben aus ihren Heimen gejagt, mit Waffen gezwungen, ihre Familien und Länder zu verlassen, von grausamen und hartherzigen Schleusern ausgebeutet. Sie haben im Schnee und auf hoher See dem Tod ins Auge gesehen. (…) Die Präsenz der Flüchtlinge und ihre schiere Zahl, die wegen Wirtschaftsflüchtlingen von jenseits Syriens noch anschwillt, sind eine reale, soziale Herausforderung. Sie darf nicht unterschätzt werden. Regierungen müssen zeigen können, dass sie die Dinge im Griff haben, was in der Syrienkrise aber offenkundig nicht der Fall ist. Dieses Abkommen (und die zufällig am selben Freitag gelungene Festnahme des Terrorverdächtigen von Paris) ändert das wohlmöglich. Letztlich steht aber moralisch fest, dass die Welt die Verantwortung dafür trägt, dass diese leidenden Menschen anständig behandelt werden. Das Abkommen hat das Potenzial, dem gerecht zu werden. (…) Die wirkliche Probe besteht aber in der Implementierung. Sie wird Ressourcen erfordern – und alle Unterzeichner müssen bereit sein, ihre Rolle menschenwürdig, kooperativ und den Regeln gemäß zu spielen. Die praktischen Probleme sind riesig.

 

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