Sommer-Special

Verlorene Kindheit

Talal Derki beobachtet in seinem Oscar-nominierten Dokumentarfilm eine radikal­islamische Familie im zerstörten Syrien, die ihre Söhne zu Gotteskriegern erzieht. Eine erschütternde Geschichte eines liebevollen Vaters, der seinen Kindern Hass und Grausamkeit beibringt. Dieser Beitrag ist der zweite unseres diesjährigen Sommer-Spezialprogramms mit Rezensionen künstlerischer Werke mit entwicklungspolitischer Relevanz.
Der 12-jährige Osama im Militärcamp. Er ist einer von vielen jungen Rekruten für den „Heiligen Krieg“. OFAS/ Port Au Prince Pictures Der 12-jährige Osama im Militärcamp. Er ist einer von vielen jungen Rekruten für den „Heiligen Krieg“.

„Ich habe den Vogel geschlachtet“, sagt der kleine Osama zu seinem Vater. „Wir haben seinen Kopf abgetrennt, wie du es bei dem Mann gemacht hast, Papa.“ Osama lebt mit seinem Vater Abu Osama, zwei Müttern und drei Brüdern in einem zerstörten Dorf im Nordwesten Syriens. Ob es noch Schwestern gibt, weiß man nicht. Die Frauen werden nie gezeigt. Der Film gehört ganz Abu Osama, einem der Gründer von Al Nusra – einem syrischen Arm von Al Kaida –, und seinen Söhnen. Der Jüngste ist etwa zwei Jahre alt und soll schon Koranverse nachsingen. Die beiden mittleren Söhne eifern dem großen Bruder Osama nach. Er ist 12 Jahre alt und bald bereit für den Dschihad.

Der Regisseur Talal Derki kehrte für die Dokumentation in seine Heimat Syrien zurück und gewann das Vertrauen der Familie. Er gab sich als Kriegsfotograf aus, der mit den Islamisten sympathisiert. Zusammen mit seinem Kameramann verbrachte er mehr als 300 Tage mit der Familie. Abu Osama glaubt fest an ein Kalifat, eine islamische Gesellschaft unter den Gesetzen der Scharia. So erzieht er auch seine Söhne. Der Film zeigt geduldig dokumentarisch mal die zärtliche, mal die harte Hand des Vaters.

Während Abu Osama Minen ausgräbt, sind die Kinder unter sich, ohne Spielzeug, ohne Fernsehen, abgeschottet von allen äußeren Einflüssen. Zerstörte Panzer und Ruinen sind ihr Spielplatz. Sie bauen sich Bomben aus harmlosen Chemikalien. Der Kriegsschauplatz bespielt ihre Fantasie. An einem heißen Tag plantschen sie in einer Betongrube voll Wasser. Beim Absprung schreit Osama: „Operation Befreiung Schwimmbecken!“

Manchmal dürfen sie mit dem Vater im Auto mitfahren, etwa für einen Ausflug zur ehemaligen Front. Als sie aussteigen, warnt sie Abu Osama vor den Minen im Boden. Damit hat er Erfahrung. Er ist Experte für Autobombenanschläge und Minenräumungen. Völlig furchtlos gräbt er die Minen aus und entfernt die Zünder. Das wird ihm zum Verhängnis. Eine Mine explodiert und reißt ihm den linken Fuß ab.

Während sich der Vater zu Hause langsam erholt, kommen die zwei ältesten Söhne ins Trainingscamp. Dort werden die Kinder für den bewaffneten Kampf in der Al Nusra vorbereitet. Die folgenden Bilder sind wirklich schockierend. Vermummt und in Militäruniform springen die Jungen durch brennende Reifen und üben Bodengefechte. Sie robben unter Stacheldrahtzaun hindurch, während die Ausbilder neben ihre Köpfe und Füße schießen. Nach dem zweiten Trainingscamp wird Osama in den Kampf geschickt. Hier trennen sich die Wege des Regisseurs und der Familie.

Bis auf einen Prolog und Epilog kommt der Film mit wenig Erklärungen aus. Der Autor ist Beobachter, kein Fragesteller. Die Protagonisten erzählen spontan. So bleiben aber auch viele Fragen offen. Welche Rolle spielen die Frauen, wo und um was wird gerade gekämpft, und wie funktioniert das Leben im zerstörten Dorf?

Offenbar ist das die bewusste Entscheidung des Autors, um die Echtheit der Situationen zu bewahren. Mit teils wackelnder Kamera und langen Einstellungen schafft er ein vertrautes Verhältnis zwischen dem Zuschauer und den Protagonisten – manchmal fast zu vertraut. Man kann sicher über die filmische Methode diskutieren, die die Kinder der Öffentlichkeit so ausliefert.

Aber es geht auch um Talal Derki selbst. Er wurde in Damaskus geboren und lebt seit 2014 mit seiner Familie in Berlin. Seine zweite Langregie ist seine ganz persönliche Suche nach Antworten auf die verworrene Situation in seiner Heimat und die Frage, warum sich Menschen radikalisieren und nach den Regeln des sogenannten Islamischen Staates leben. Wenn auch die Dokumentation dafür keine Erklärung hat, zeigt sie doch ganz klar: Die Kinder hatten nie eine Chance, sich frei zu entscheiden.


Film
Of Fathers and Sons – Die Kinder des Kalifats, 2017, Syrien, Deutschland, Libanon, Regisseur: Talal Derki.

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