Lebenswandel

Anlass zu weltweiter Sorge

Ein wachsender Anteil der brasilianischen Bevölkerung ist fettleibig. Gesündere Ernährung würde helfen – aber Lebensgewohnheiten lassen sich nicht leicht ändern.
Es gibt immer mehr übergewichtige Brasilianer: Fußballfans 2014 in Porto Seguro. picture-alliance/GES-Sportfoto Es gibt immer mehr übergewichtige Brasilianer: Fußballfans 2014 in Porto Seguro.

1996 waren 12,7 Prozent der erwachsenen Brasilianer fettleibig, 2016 – zwei Jahrzehnte später – betrug die Quote 22,1 Prozent, fast doppelt so viel. Das besagen jedenfalls Statistiken der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (Organisation for Economic Co-operation and Development – OECD).

Fettleibigkeit bedeutet nicht einfach, dass ein Mensch Übergewicht hat, sondern dass das Körperfett mit großer Wahrscheinlichkeit die Gesundheit schädigt. Zu den Folgeproblemen gehören Bluthochdruck, Herzinfarkte, Schlaganfälle, Krebs, Diabetes und Gelenkschmerzen. Auch Schlafstörungen und Depressionen sind verbreitet. Die Weltgesundheitsorganisation (World Health Organization – WHO) bezeichnet Menschen mit einem Body-Mass-Index von 30 oder mehr als fettleibig. Bereits ab einem Wert von 25 spricht die WHO von Übergewicht.

Laut einer im vorigen Jahr veröffentlichten Erhebung des brasilianischen Gesundheitsministeriums sind 25,4 Prozent der Frauen und 18,5 Prozent der Männer im Land fettleibig, wobei über die Hälfte der Erwachsenen Übergewicht hat. Als besonders besorgniserregend gilt, dass zunehmend auch junge Leute betroffen sind. 2019 hatte eins von drei brasilianischen Kindern Übergewicht, wie Daten von Sisvan, einem staatlichen Monitoringsystem zu Ernährungsfragen, ergeben.

Das Gesundheitsministerium betreibt ein weiteres Monitoringsystem namens Vigital, um chronische Erkrankungen zu dokumentieren. Seinen Daten zufolge sind 7,7 Prozent der Erwachsenen Diabetiker, und 24,7 Prozent leiden unter Bluthochdruck. Übergewicht haben drei Viertel beider Patientengruppen.

Diese Gesundheitsprobleme haben unmittelbar mit dem Lebenswandel zu tun, denn ursächlich sind schlechte Ernährung und zu wenig Bewegung. Es ist ungesund, zu viel Zucker, Fett und Kohlenhydrate zu essen. Dazu tragen aber Fertiggerichte und Süßigkeiten bei, die aggressiv beworben werden. Kinder und Jugendliche sind dabei häufig die Zielgruppe.

Die brasilianischen Daten entsprechen internationalen Trends. Die WHO spricht von einer globalen Epidemie der Fettleibigkeit. Experten sind sich international einig, dass es nicht nur um individuelle Konsumentscheidungen geht, denn politische, ökonomische, soziale und kulturelle Faktoren haben großen Einfluss darauf, welche Vorlieben und Gewohnheiten Menschen entwickeln. Aus WHO-Sicht sollte die Politik dafür sorgen, dass Menschen gesunde Entscheidungen leichter fallen.


Ehrgeiziger Plan

Brasilianische Behörden wollen den Trend zur schlimmer werdenden Fettleibigkeit stoppen. Das war ein Thema von Plansan, dem nationalen Plan zur Nahrungs- und Ernährungssicherung, für die Jahre 2016 bis 2019. Er wurde von der Mitte-links-Regierung der früheren Präsidentin Dilma Rousseff beschlossen. Zu den Zielen gehörte:

  • die wachsende Inzidenz von Fettleibigkeit in der erwachsen Bevölkerung zu stoppen,
  • den regelmäßigen Konsum von Limonaden und künstlichen Säften zu begrenzen und
  • den Anteil der Erwachsenen, die regelmäßig Obst und Gemüse essen, zu vergrößern.

Wie ein 2018 veröffentlichter Bericht zeigte, flossen aber bei der Plansan-Implementierung fast 90 Prozent der Mittel in Maßnahmen, die den Zugang armer Individuen und Familien zu ausreichender und gesunder Ernährung sicherstellen sollten. Dabei wurde besonders auf extrem arme Gruppen oder auch Senioren geachtet. Gesündere Diäten bekamen dagegen nicht viel Aufmerksamkeit. Das hatte unter anderem damit zu tun, dass Brasilien eine schwere Wirtschaftskrise durchmachte, in deren Verlauf die Armut zunahm. Ende 2019 lebten offiziellen Schätzungen zufolge wieder etwas mehr als 6,5 Prozent der Bevölkerung in extremer Armut.

Reformen innerhalb der Verwaltung liefen zudem unter dem aktuellen Präsidenten Jair Bolsonaro darauf hinaus, das Plansan nicht weiter verfolgt wurde. Eine Neuauflage für die Jahre 2020 bis 2023 wird nicht vorbereitet, obwohl zivilgesellschaftliche Organisationen Interesse daran bekundet haben.

Die Covid-19-Krise verschärft die Probleme. Normalerweise bekommen 40 Millionen Kinder und Jugendliche täglich in öffentlichen Schulen Mahlzeiten. Im Lockdown fällt das aber ebenso aus wie der Unterricht. Die Bolsonaro-Regierung hat allerdings Sondergenehmigungen für Lebensmittelzuteilungen an die Eltern und Vormünder der betroffenen Schüler und Schülerinnen erteilt – mit positiven Nebenwirkungen auf die Einkommen von Produzenten, einschließlich kleiner Bauernhöfe. Der rechtspopulistischen Regierung ist es wichtiger, als aktiv im Kampf gegen Hunger und bei der Förderung der Landwirtschaft wahrgenommen zu werden, als komplexe Gesundheitsprobleme anzugehen.

Der Präsident redet die Corona-Krise klein (siehe meinen Beitrag im Covid-19-Tagebuch von E+Z/D+C e-Paper 2020/06). Lockdowns wurden von Gremien auf subnationaler Ebene (Kommunen und Landesregierungen) beschlossen. Die Website Woldometer meldete für Brasilien Mitte Oktober fast 5,4 Millionen Infektionen und mehr als 150 000 Tote. Nur in den USA waren mehr Patienten dem Coronavirus erlegen.

Auch die Volkswirtschaft ist hart getroffen. Die Weltbank schätzt, dass die Zahl der extrem Armen in unserem Land bis zum Jahresende auf knapp 15 Millionen steigen wird. Das wäre ein Zuwachs um fast 50 Prozent in diesem Jahr.


Wachsendes Bewusstsein

Positiv ist jedoch, dass viele Brasilianer mittlerweile auf Gesundheit achten. Sie interessieren sich für einschlägige Informationen. Fast 40 Prozent treiben beispielsweise regelmäßig in der Freizeit Sport. Vielen ist auch klar, dass gute Ernährung die körperliche Fitness unterstützt, wobei ausgewogene Diäten selbstverständlich nicht nur für Amateurathleten gut sind. Monyke Lopes, eine auf Ernährungsfragen spezialisierte Heilpraktikerin, sagt, das öffentliche Bewusstsein für solche Dinge wachse, wobei manche Menschen leider weiterhin ignorant blieben.

Sie betont aber auch, dass viele Dinge Lebensmittelentscheidungen beeinflussen. Dabei spiele der sozioökonomische Status eine sehr große Rolle. Haushalte mit niedrigen Einkommen könnten sich eine ausgewogene Ernährung oft nicht leisten, da gesunde Produkte wie etwa Bio-Obst und -Gemüse teuer seien. Das gelte ebenso für proteinreiche Waren wie mageres Fleisch und Fisch. Allzu oft bestehe die Ernährung armer Haushalte vor allem aus Kohlehydraten sowie Süßigkeiten als Nachtisch oder zwischendrin. Andererseits fehle vielen berufstätigen Müttern auch die Zeit zum Kochen, sodass sie ihren Familien Fertiggerichte kauften, die typischerweise zu viel Zucker, Salz und Fett enthalten.

Bei Kindern und Jugendlichen ist Fettleibigkeit besonders problematisch, denn sie entwickeln früh ungesunde Gewohnheiten. Personen, die schon in jungen Jahren fettleibig sind, leiden auch mit relativ hoher Wahrscheinlichkeit früher an Folgeerkrankungen.

Auch diesbezüglich gibt es international Anlass zu Sorgen. Eine Gemeinschaftsstudie von WHO und dem Londoner Imperial College hat 2017 ergeben, dass sich die Zahl der fettleibigen Kinder und Jugendlichen weltweit in den vergangenen 40 Jahren verzehnfacht hat. Die Autoren warnten, die aufgezeigten Trends würden, sollten sie konstant bleiben, Fettleibigkeit in der jungen Generation schon 2022 zu einem größeren Problem als Mangelernährung machen.

Aus Sicht der Heilpraktikerin Lopes bewegten sich brasilianische Kinder im Alltag nur wenig, sie schauten viel fern und beschäftigten sich mit ihren Mobiltelefonen. Fast Food sei in dieser Altersgruppe sehr beliebt, Gemüse hinegen werde kaum gegessen. Lopes überrascht es nicht, dass die Hälfte ihrer Patientinnen und Patienten abnehmen wolle und/oder unter einer chronischen Krankheit leide. Gesundheit und gesunde Ernährung müssten im Schulunterricht thematisiert werden, urteilt Lopes.


Thuany Rodrigues ist Journalistin und lebt in Rio de Janeiro.
thuanyrodriigues@gmail.com

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